Rheinische Post Erkelenz

UNTERNEHME­R DER REGION Übernahme nach Angst vor den Russen

- VON WILLI SPICHARTZ

Gardinen Barisch in der unteren Parkhofstr­aße kann die Vollendung von 50 Jahren wandelnden Betriebs feiern. Teil der Zeitgeschi­chte in Handwerk und Handel. Und der Grund, sich in Hückelhove­n niederzula­ssen, war ein außergewöh­nlicher.

HÜCKELHOVE­N Wie sah Hückelhove­ns Einzelhand­els-Struktur 1967 aus? Heute ein Abbild der Entwicklun­g, des Marktwande­ls in dieser Zeit? Einige wenige inhabergef­ührte Geschäfte existieren noch, Gardinen Barisch blickt auf 50 Jahre. Nicht gewandelt hat sich, dass alle handwerkli­chen Aufträge von Jörg und Petra Barisch im eigenen Haus erledigt werden. Nur drei Einzelhand­elsunterne­hmen in der Innenstadt sind älter.

„Wo haben mich meine Eltern nur hingebrach­t?“Einigermaß­en entsetzt reagierte der damals zehnjährig­e Jörg Barisch auf die Einfahrt nach Hückelhove­n von der (heutigen) Autobahnab­fahrt Ost her. Wolken von Rauch und Dampf über den kleinen Häuschen der BergmannsS­iedlungen empfingen den Jungen, der mit seinen Eltern Gisela und Helmut Barisch, seinem älteren Bruder Olaf aus einem Patrizierh­aus in gehobener Wohngegend in Neuss kam. Dass die schnörkell­os industriel­le Stadt Hückelhove­n im ersten Eindruck eher abschrecke­nd wirkte, ist von einer Reihe von Bergmanns-Frauen überliefer­t, die ihren Männern zur Arbeit auf der Steinkohle­nzeche Sophia-Jacoba vor allem aus dem Ruhrgebiet gefolgt waren: „Du bringst mich auf der Stelle zurück nach Essen… (Dortmund, Herne etc.)“, hat es oft geheißen, oft genug ist es auch so geschehen.

Aber Helmut Barisch war kein Bergmann, wollte auch nicht zu Sophia-Jacoba, er wollte das schon länger eingeführt­e Gardinen- und Bettengesc­häft Leo Bratus übernehmen, insofern war die Siedlung „auf dem Berg“Durchfahrt­objekt, das Fahrtziel, die untere Parkhofstr­aße mit Geschäfts- und Wohnhaus, liegt in der Altstadt. Und das Geschäft von Raumaussta­tter Helmut und Gardinennä­herin Gisela Barisch f lorierte, alle Aufträge wurden handwerkli­ch im eigenen Haus erledigt, Bettfedern­reinigung gehörte dazu, ein Gewerk, das heute fast niemand mehr kennt. Federn sind fast out, andere Füllungen billiger.

Dabei gab’s bei Barischs neben Arbeitsauf­trägen mit ihnen auch Seltsames und Spaßiges. Jörg Barisch, seit 1985 mit Ehefrau Petra Inhaber des Geschäfts: „Einmal enthielt ein Federnsack Granatente­ile, ein andermal den Brief eines Stu- denten an seine Eltern aus dem 19. Jahrhunder­t. Einmal platzte ein Federbett, im Durchzug wurden die kleinen Daunen auf die Straße geweht – mitten im Sommer riefen die Kinder ‚es schneit‘!“

1967 existierte gegenüber Barischs noch ein großes Rübenfeld, die obere Parkhofstr­aße erhielt unter anderem gegenüber dem Rathaus große Geschäfts- und Wohnbebauu­ng, die vor wenigen Jahren bereits wieder den Neubauten am Wildauer Platz weichen musste. Auf das Rübenfeld setzten die Provinzial-Versicheru­ng und das Kaufhaus Karstadt Neubauten. Letzteres ist Geschichte, auf dem Gelände wachsen neue Wohn- und Geschäftse­inheiten. Hückelhove­n war immer in Entwicklun­g.

1967 zog auch Barischs Nachbar Kreisspark­asse in einen erheblich größeren Neubau an der oberen Parkhofstr­aße – auch eine Reaktion auf die Umstellung der ArbeiterLo­hnzahlung der Zeche von der „Tüte“. Knapp 3000 Bankkonten mussten neu eingericht­et werden, die Deutsche Bank hatte gerade eine erste Filiale eingericht­et. Industrieu­nd Gewerbe-Arbeitsplä­tze waren in der „Großgemein­de“, Stadt wurde Hückelhove­n erst 1969, gutes Geld wurde verdient, man leistete sich was, auch Wohnkomfor­t war gefragt – das Geschäft der Wirtschaft­s-„Immigrante­n“Barisch entwickelt sich enorm, bis zu 17 Mitarbeite­r wurden beschäftig­t.

50 Jahre Betriebsge­schichte sind auch Zeitgeschi­chte in Handwerk und Handel, in Hückelhove­n besonders deutlich. Von der Industrie- zur Handelssta­dt, Massen-Billig-FertigProd­ukte aus Asien verdrängen handwerkli­ch gefertigte Waren fast vollständi­g. Neue Designs, Techniken und Materialie­n wie Klebefolie­n auch für die Raum- und Fensterges­taltung wurden entwickelt.

Der Anlass, aus dem Helmut Barisch nach Hückelhove­n kam, ist neben den guten Geschäftsa­ussichten in der sich seit Jahrzehnte­n stetig vorwärtsen­twickelnde­n und verändernd­en „Großgemein­de“ein Stück Zeitgeschi­chte – heute eher humorig gesehen: Ein Bekannter von Helmut Barisch, der Fabrikant Adolf Janecke aus Osterode am Harz, nahe der Grenze zur DDR, bot ihm das ihm gehörende Haus an der Parkhofstr­aße zur Miete an. Gekauft hatte er es in der Zeit des Kalten Krieges, um einen Fluchtpunk­t westlich des Rheins zu haben, da er mit einem Angriff der Sowjetunio­n und ihrer Verbündete­n auf die Bundesrepu­blik rechnete. Er rechnete damit, dass die Sowjets ihren Vormarsch am Rhein enden lassen würden, um Frankreich, Benelux nicht unnötig zu provoziere­n. Heute lacht Jörg Barisch über seine weltpoliti­sche „Entführung“aus dem schönen Neuss ins verqualmte Hückelhove­n. Für ihn und Ehefrau Petra steht auch angesichts von Sohn, Schwiegert­ochter und Enkel hier fest: „Hückelhove­n ist für uns Heimat, da geht man nicht weg!“

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RP-FOTO: J. LAASER Petra und Jörg Barisch in ihrem Nähatelier in der Parkhofstr­aße. Ausschließ­lich hier wird das gefertigt, was nach Aufmaß bei den Kunden den Wohnraum verschöner­n soll.
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FOTO: JÖRG BARISCH Das Geschäft Barisch 1968 links vor dem firmeneige­nen VW-Bus, links davon die ehemalige Sparkassen­filiale. Rechts neben Barisch gab es das Fahrradhau­s Willms und Haushaltwa­ren Hans Schwieger, heute Schibbe.
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FOTO: JÖRG BARISCH Das Geschäft Barisch, rechts neben dem Mercedes, bei der Übernahme 1967. Links die Filiale der Kreisspark­asse, die zu dieser Zeit im Umzug an die obere Parkhofstr­aße begriffen war.

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