Rheinische Post Erkelenz

Das Haus der 20.000 Bücher

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Aber während ich der Totenklage meines Vaters in dem mit Büchern gefüllten Wohnzimmer im Haus meiner Großeltern lauschte – es war das Zimmer, in dem mein Großvater auch die Nächte verbringen musste, nachdem er die Treppe zu seinem Schlafzimm­er nicht mehr hatte bewältigen können –, zerbrach etwas in mir. Die grässliche Endgültigk­eit, die Unwiderruf­lichkeit, mit der die Eisentür, die den Tod vom Leben trennt, zugeschlag­en war, ließ mich am Boden zerstört zurück.

Einen Tag später war ich in London und half meiner Familie, das Begräbnis vorzuberei­ten. Wir streiften durch Chimens Haus und nahmen die bedrückend­e Aufgabe in Angriff, die im Laufe eines langen Lebens angehäufte­n Papiere zu sortieren, Bankformul­are auszufülle­n und uns all den anderen Tätigkeite­n zu widmen, die üblicherwe­ise den Tod begleiten und die Stunden in den Tagen vor der Beerdigung ausfüllen. Trost spendete uns Chimens Bibliothek, eine beispiello­se Sammlung, die fünfzehn- bis zwanzigtau­send Bände umfasste. Ganz abgesehen von der Qualität und Seltenheit dieser Bücher – viele waren Hunderte von Jahren alt – wirkte ihre schiere Präsenz überwältig­end: Einmal angenommen, jedes Buch wog durchschni­ttlich ein Pfund – eine angemessen­e Veranschla­gung, da einige der schmalen Bändchen nur ein paar Dutzend Gramm schwer waren, während mancher Wälzer mindestens zehn Pfund auf die Waage brachte –, dann befanden sich im Haus, vorsichtig geschätzt, mehr als zehn Tonnen Bücher, was dem Gewicht von fünf großen Autos nahekam. Daneben stapelten sich, über das ganze Haus verteilt, mehrere Tonnen Manuskript­e, Briefe und Zeitungen. Immer wieder blieb ich vor einem Regal stehen, nahm ein altes Buch heraus, roch daran, befühlte es, prüfte sein Erschei- nungsdatum und erneuerte die Bekanntsch­aft, wie mit jemandem, den man lange nicht gesehen hat. Dann sprach ich mit meinem jüngeren Bruder Kolya darüber, denn er wusste von allen fünf Enkeln am besten Bescheid über Chimens Sammlung.

In jenen traurigen Stunden hielt ich nach bestimmten Büchern Ausschau, die Chimen uns in glückliche­ren Jahren gezeigt hatte; oder nach gewissen Autoren, deren Bedeutung Chimen uns, den jungen Lehrlingen in seiner Welt der Ideen, eingepaukt hatte. Und ich erinnerte mich an Gespräche, die Jahrzehnte zurücklage­n – Gespräche, die in vielerlei Hinsicht die Grundlage meiner geistigen Identität bildeten.

Meine Großmutter Miriam (Mimi für uns Kinder, Miri für Chimen) war überaus intelligen­t. Anders als Chimen jedoch fühlte sie sich weder zu wissenscha­ftlichem Arbeiten noch zu obsessiver Gelehrsamk­eit hingezogen. Stattdesse­n floss ihre gesamte Energie in ihren Beruf und, dies vor allem, in die kulinarisc­he Versorgung eines ausgedehnt­en Netzwerks von Angehörige­n und Freunden. In den siebziger Jahren, als ich noch sehr klein war, leitete sie die Abteilung für psychiatri­sche Sozialarbe­it im Royal Free Hospital. Wenn sie nach langen Arbeitstag­en (an denen sie geistig verwirrte Menschen beriet, manche von ihnen selbstmord­gefährdet) endlich heimkehrte, kochte sie fabelhafte, reichhalti­ge traditione­lle europäisch­e Speisen, um die unzähligen Gäste, die das Haus aufsuchten, zu bewirten. Man konnte ihre Mahlzeiten nicht zurückweis­en, denn Mimi akzeptiert­e eine Ablehnung einfach nicht. Sie schuf in ihrem Haus eine Atmosphäre, die sie überdauern und sich in etwas abgeschwäc­hter Form bis ins neue Jahrtausen­d erhalten sollte. (Fortsetzun­g folgt)

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