Das Haus der 20.000 Bücher
Selbst in seinen letzten Lebensjahren, wenn ich ihn mit meinen Kindern in dem zunehmend renovierungsbedürftigen Haus besuchte, empfing Chimen immer noch Gelehrte und alte Genossen – die wenigen, die noch am Leben waren – auf eine rasche Tasse Kaffee, auf Brot mit Hering und ein kurzes Gespräch. gen . . .“, er machte eine Pause, „dein Großvater war dein Held.“
Er hatte recht. Chimen Abramsky war in vielerlei Hinsicht legendär. Als dritter, atheistischer Sohn des berühmten Rabbiners Yehezkel Abramsky, der 1956 mit dem ersten Israel-Preis in der Kategorie Rabbinische Literatur ausgezeichnet wurde, und als Enkel eines anderen berühmten Rabbiners, nämlich Moshe Nahum Jerusalimskys, sowie als Urenkel eines weiteren renommierten Rabbiners, und zwar Yaakov Dovid Willowskis (den man liebevoll „Ridbaz“nannte – ein Spitzname, der sich aus dem Akronym aus seinem Titel und seinen Initialen ergab), glich Chimen einer Gestalt aus den Erzählungen Isaac Bashevis Singers oder einem Antiquar in einem Roman von Dickens oder dem exzentrischen Gastgeber eines Salons im 18. Jahrhundert beziehungsweise, viel zutreffender, einer Mischung aus ihnen allen. Es war unmöglich, ihn in eine Schublade zu stecken. Während sein Vater dem Londoner Beth Din vorstand, dem obersten religiösen Gerichtshof für Juden in Großbritannien, war Chimen – der damals mit meiner Großmutter gleich um die Ecke von Yehezkels Büro eine jüdische Buchhandlung mit Verlag namens Shapiro, Valentine & Co betrieb – ein führendes Mitglied der Kommunistischen Partei des Landes.
Später wandelte er sich zu einem entschiedenen Kritiker der Sowjetunion und sollte den liberalen Philosophen Isaiah Berlin zu seinen engsten Freunden und Mitstreitern zählen. Obwohl Chimen keinen Universitätsabschluss besaß, gehörte er in seinen mittleren Jahren zu den weltweit renommiertesten Ex- perten sowohl für sozialistische als auch für jüdische Geschichte. Nachdem er sich jahrzehntelang seinen Lebensunterhalt mit dem Kauf und Verkauf von Büchern verdient hatte, war er später als Hochschullehrer tätig; anfangs hielt er am St. Antony’s College in Oxford Vorlesungen über Marxismus, später hatte er den Lehrstuhl des Jewish and Hebrew Studies Department am University College London inne; außerdem verbrachte er einige Zeit als Gastprofessor in Brandeis und Stanford – und er hielt Vorlesungen in etlichen namhaften Institutionen auf beiden Seiten des Atlantiks. Das iTüpfelchen auf Chimens beruflicher Laufbahn schließlich bildete seine Tätigkeit als maßgeblicher Sachverständiger für Handschriften und alte Drucke im Auftrag des Auktionshauses Sotheby’s.
Außerdem war er einer der eigenwilligsten Büchersammler Englands und einer der großen Briefschreiber seiner Zeit. Er verfasste Briefe auf Englisch, Hebräisch, Russisch und Jiddisch, zuweilen nicht weniger als zehn oder sogar zwanzig pro Tag, an eine Unmenge von Adressaten.
Chimen war ein kleiner Mann, nur einen Meter fünfundfünfzig groß, mit langen, kräftigen Armen und einem Stiernacken – möglicherweise Folge seiner Jahre als Chef von Shapiro, Valentine & Co, in denen er regelmäßig schwere Bücherkisten herumschleppte. Einer der ältesten Freunde meines Vaters beschrieb Chimen in seinen Kindheitserinnerungen an das London der Nachkriegszeit mit großer Zuneigung als „russischen Gnom“. Als er älter wurde, trug er fast immer einen dunkelgrauen Konfektionsanzug mit Krawatte; wenn er sich be- sonders ungezwungen fühlte, etwa auf einem der seltenen Ausflüge an den Strand, mochte es vorkommen, dass er das Jackett durch einen Wollpullover ersetzte. Unter freiem Himmel war sein Kopf, oben kahl und hinten mit einem Kranz widerspenstiger weißer Haare verziert, fast immer von einer Stoffmütze oder einem Homburg aus Tweed gekrönt. Er hatte einen wunderbaren osteuropäischen Akzent, der fast genauso verstaubt, so durchdrungen vom Widerhall der Vergangenheit war wie die Bücher, die er sammelte; und er benutzte eine ganz eigene Mischung aus Englisch, Hebräisch, Russisch und Jiddisch. Einigen Freunden und Bekannten war eine bestimmte Sprache vorbehalten; bei anderen Gelegenheiten sprach er in einem höchst sonderbaren Mischmasch.
Mit Mitte achtzig machte er sich Notizen für eine Autobiografie (letzten Endes sollte er sich allerdings nicht in der Lage sehen, die Arbeit in Angriff zu nehmen). Darin stellte er sich die Frage: „Warum könnte jemand den Drang verspüren, über sein eigenes Leben zu schreiben?“Teil seiner Antwort war die Überlegung, dass sein Leben „einen großen Zeitraum unseres turbulenten Jahrhunderts umspannt hatte: Revolution, Bürgerkrieg, Pogrome, brutale Diktatur, den Zweiten Weltkrieg mit seinen schrecklichen Tragödien, gipfelnd im Völkermord, der Vernichtung von sechs Millionen Juden. Das Leben ist in hohem Maße ein Glücksspiel, das von Zufällen bestimmt ist, von Kräften, die nicht unserem Willen unterliegen, zu deren Ausrichtung wir jedoch wohl oder übel beitragen“.
(Fortsetzung folgt)