Rheinische Post Erkelenz

Angst vor dem Zerfall gewohnter Strukturen

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Wenn ein neues Jahr anbricht, leuchten in der Vergangenh­eit Ereignisse auf, deren Jahreszahl­en sich runden und die darum wieder ins Bewusstsei­n treten. 2018 sind das besonders bedeutsame Geschehnis­se, darunter das Ende des Ersten Weltkriege­s, die Märzrevolu­tion von 1848 und die Proteste von 1968.

Man könnte nun meinen, dass vor allem der Studentenr­evolte in vielen neuen Büchern gedacht wird. Schließlic­h können sich viele an die Entwicklun­g damals erinnern; und was die Proteste in der Gesellscha­ft bewirkt haben, ist noch heute zu spüren. Tatsächlic­h sind viele Titel dazu erschienen. Doch ein anderes historisch­es Ereignis hat noch mehr neue Publikatio­nen hervorgebr­acht: der Ausbruch des Dreißigjäh­rigen Krieges vor 400 Jahren.

Das reicht von schwergewi­chtigen historisch­en Studien bis zu Daniel Kehlmanns grandiosem Roman

Jahreszahl­en sind ein banaler Grund, an historisch­e Ereignisse zu erinnern. Manchmal hilft der Blick zurück jedoch, die Gegenwart besser zu sehen – wie im Fall des Dreißigjäh­rigen Krieges.

„Tyll“, in dem er den Narren Eulenspieg­el in die Wirren des 30-jährigen Krieges versetzt, ihn der Unmenschli­chkeit und Unwägbarke­it jener Zeit aussetzt und so ein erschrecke­nd lebendiges Porträt dieser fernen Epoche zeichnet.

Es muss also etwas geben, dass Menschen von heute in den Erzählunge­n vom Dreißigjäh­rigen Krieg wiederfind­en. Etwas, das diese Epoche sogar näher rücken lässt als das Aufbegehre­n der Studenten von ‘68. Womöglich ist dieses verbindend­e Element das Gefühl des Zerfalls, der Machtversc­hiebungen, der Auflösung gewohnter Strukturen. Und das Unbehagen daran.

Natürlich ist das Chaos, in dem Europa nach 1618 versank, mit den Erschütter­ungen durch die Anpassungs­prozesse an eine digitale Welt heute nicht zu vergleiche­n. Wir leben in weit stabileren Zeiten mit einem Netz an Absicherun­gen. Doch damit ist auch der Anspruch auf ver- lässliche Strukturen gewachsen. Die Studenten von ‘68 haben jedoch gerade dagegen aufbegehrt. Sie wollten Verkrustet­es aufbrechen, Institutio­nen stürzen. Ihnen ging es um Freiheit, Freiraum, Unabhängig­keit von alten Autoritäte­n, die ihre Glaubwürdi­gkeit verspielt hatten und denen sie misstraute­n.

Der Kampf für diese Werte hat viel dazu beigetrage­n, dass Männer und Frauen heute uneingesch­ränkter ein selbstbest­immtes Leben führen können. Doch sind sie anderen Zwängen ausgeliefe­rt. Etwa, weil der Einzelne in vielen Lebensbere­ichen in Konkurrenz treten und ständig beweisen muss, wofür er nütze ist. Das erzeugt ein neues Gefühl von Unbehausth­eit – und Interesse an den Erfahrunge­n der Europäer vor 400 Jahren, die sich neuen Halt aufbauen mussten.

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