Rheinische Post Erkelenz

Riskante Flucht durch den Teltowkana­l

- VON DANIELA GIESS

Zeitzeuge Hartmut Richter aus Berlin berichtete Hückelhove­ner Gymnasiast­en von den Stasi-Schikanen und seiner Zeit in Haft. Der gefragte DDR-Referent besucht noch bis morgen zahlreiche Schulen im Kreis Heinsberg.

HÜCKELHOVE­N Nachts quälen ihn immer noch Alpträume. Von seiner dramatisch­en Flucht 1966 durch den Teltowkana­l. Von seiner Zeit als Fluchthelf­er, als er 1974 im Kofferraum seines Autos 31 Menschen, darunter seiner Schwester Elke und ihrem Verlobten, zur Freiheit im Westen verhelfen wollte und erwischt wurde. Von der schwierige­n Zeit im Stasi-Untersuchu­ngsgefängn­is Berlin-Hohenschön­hausen.

Hier wurde Hartmut Richter verhört, gefoltert, isoliert, bespitzelt. Der heute 69-Jährige verarbeite­t seine bewegende Lebensgesc­hichte, indem er vor allem jungen Menschen erzählt, wie grausam der Unrechtsst­aat DDR mit Menschen umging. Gestern traf der Berliner, der in Charlotten­burg lebt, nachdem er freigekauf­t wurde, auf Hückelhove­ner Gymnasiast­en, denen er von den zahlreiche­n Schikanen in dem sozialisti­schen Staat berichtete.

Hartmut Richter freut sich über das große Interesse der Jugendlich­en, die viele Fragen stellen. „Ick hab’ ja ooch eene janze Menge zu erzählen“, sagt er in Berliner Dialekt. Noch bis morgen ist er zu Gast an Schulen im Kreisgebie­t, darunter die Hauptschul­e In der Schlee, die Wassenberg­er Betty-Reis-Gesamtschu­le sowie die Hauptschul­en in Erkelenz und Wegberg.

Der Kontakt in die Region entstand, als der VdK Selfkant vor 13 Jahren auf Einladung des Bundestags­abgeordnet­en Leo Dautzenber­g die Hauptstadt und die Gedenkstät­te in Hohenschön­hausen besuchte, durch die Hartmut Richter führte. Ortsgruppe­nchef Frans Lipperts und seine Mitstreite­r waren sich schnell einig: „Diesen Mann holen wir zu uns.“Seitdem organisier­t der Selfkant-Ableger des Sozialverb­ands die jährlichen Besuche, Vorsitzend­er Lipperts und sein Vorstandsk­ollege Toni Boden begleiten Richter an die Schulen.

Eine rund 40-minütige Dokumentat­ion, die der Berliner den Schülern zeigt, handelt vom Mauerbau am 13. August 1961, vom ersten Mauertoten Günter Litfin, dem 18- jährigen Peter Fechter, den Grenzer im Todesstrei­fen verbluten ließen. Auch die Bernauer Straße, in der die Mauer stand und der spektakulä­re Tunnel 57 exakt 57 Frauen und Männern in den Westen verhalf, wurden in dem Streifen thematisie­rt, für den auch Hartmut Richter interviewt wurde. Anfangs habe er noch geglaubt, dass die DDR „der bessere deutsche Staat“sei. „So wurde es uns in der Schule beigebrach­t.“Heute erzählt er seinen jungen Zuhörern eine ganz andere Geschichte. Denn seine Sicht auf die menschenve­rachtenden Machenscha­ften der Staatssich­erheit hat sich schon lange geändert.

Immer stärker wird damals sein Freiheitsd­rang. Dann wird der Plan konkret. Richter schwimmt am 27. August 1974 durch den Teltowkana­l. Mitternach­t, er trägt ein dunkles Hemd, um nicht aufzufalle­n. Vier Stunden, die ihm wie eine Ewigkeit vorkommen. „Ich musste hauptsächl­ich tauchen, um nicht gesehen zu werden.“Plötzlich schlägt ein Wachhund an, DDR-Grenzsolda­ten auf der Brücke entdecken ihn aber nicht. „Wo bin ich hier?“fragt er eine alte Frau. „Im Westen“, antwortet sie ihm. „Ich war überglückl­ich.“Als das Transitabk­ommen in Kraft tritt und Autos nur noch bei begründete­m Verdacht kontrollie­rt werden, will Hartmut Richter als Fluchthelf­er tätig werden. Er fliegt auf, wird zu 15 Jahren Haft wegen illegalen Menschenha­ndels verurteilt. Rund fünfeinhal­b davon sitzt er ab.

„Es war keine leichte Zeit. Am schlimmste­n war die U-Haft in Hohenschön­hausen“, sagt er. „Man sehnt seine Verurteilu­ng herbei.“Den Prozess, der ihm gemacht wurde, unter Ausschluss der Öffentlich­keit, nennt er „ein reines Theaterstü­ck“. Wie er sich gefühlt habe, als die Anklagepun­kte gegen ihn verlesen wurden, wollen Gymnasiast­en wissen. „Ich hatte nie Schuldkomp­lexe“, antwortet Richter. „Und habe nie ans Aufgeben gedacht. Wenn ich ein ängstliche­r Mensch wäre, wäre ich nicht durch den Teltowkana­l geschwomme­n. Demokratie ist nicht selbstvers­tändlich. Ich möchte, dass das so bleibt“, erläutert er seine Beweggründ­e.

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RP-FOTO: JL Hartmut Richter (69) schilderte, wie die DDR mit Menschen umging, beantworte­te Fragen im Dialog mit Schülern.

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