Ein Appell, nicht zu schweigen
Nuran Joerißen ist in der Türkei geboren und in Deutschland aufgewachsen. Die in Gangelt lebende Autorin thematisiert in ihrem neuen Buch Homosexualität vor dem Hintergrund einer muslimisch geprägten Familie.
WASSENBERG Zum zweiten Mal war die in der Türkei geborene, in Deutschland aufgewachsene und mit ihrer Familie in Gangelt-Kreuzrath lebende Autorin Nuran Joerißen zu Gast in der Bücherkiste Wassenberg. Nach ihrem Debütroman „Süßer Tee“, aus dem sie vor einigen Jahren las, hatte sie nunmehr ihren zweiten Roman „Das Schweigen im Koffer“im Gepäck.
In der Aula der Gemeinschaftsgrundschule machte die diplomierte Betriebswirtin deutlich, was sich
Nuran Joerißen hinter diesem Titel verbirgt. Solange das Schweigen Inhalt eines Koffers ist, den jeder mit sich herumschleppt, solange erschwert er das Leben. Das Schweigen als unterbliebene Beschäftigung mit der Vergangenheit und zugleich als stummes Erdulden der Gegenwart belastet und macht unfrei. Ursula Kurzweg vom Team der Bücherkiste hatte es in ihrer Begrüßung der Besucher und der Autorin auf den Punkt gebracht: „Ich kann nur dann zufrieden leben, wenn ich meine Vergangenheit kennengelernt habe, damit ich in der Gegenwart meine Zukunft gestalten kann.“Sie bezeichnete Nuran Joerißen als „starke Frau, die als Migrantin in zwei Kulturen aufgewachsen ist.“
Die Autorin versteht ihren Roman als Appell, nicht zu schweigen. „Wir können uns unserer Vergangenheit nicht entziehen und wir müssen unsere Stimme erheben“– so wie sie es in ihrem Buch macht: Sie thematisiert die Homosexualität vor dem Hintergrund einer muslimisch geprägten Familie ebenso wie die zum Scheitern verurteilte Liebesbeziehung zwischen einem Türken und einer Christin aus Armenien. Dass sie mit ihrem Roman und diesen Themen aneckt, ist Nuran Joerißen durchaus bewusst. „Momentan würde ich nicht in die Türkei reisen“, bekennt sie. Nach ihrem letz- ten Aufenthalt vor knapp zwei Jahren, bei dem sie einen Vortrag an einer Universität gehalten hatte, wurde ihr deutlich signalisiert, dass ein Verbleib oder eine Rückkehr in die Türkei problematisch werden könne.
Ein Jahr lang nach Veröffentlichung ihres Romans hat Nuran Joerißen nicht daraus gelesen, erst jetzt hat sie ihr selbst auferlegtes Schweigen beendet. In Wassenberg reduzierte sie ihre Lesung auf einen von mehreren Handlungssträngen des Romans. Darin kommt die Protagonistin langsam einem Familiengeheimnis auf die Spur, das mit dem Besuch ihres Vaters in einer Buchhandlung in Istanbul seinen Anfang nahm. Es gibt erste Hinweise auf die Liebesbeziehungen und Andeutungen von Homosexualität, aber „wir standen da und wussten nicht, was das Leben mit uns veranstaltet“.
Die Figuren in dem Roman haben es nicht leicht, sie werden mit der Realität konfrontiert, in der das Anderssein nicht akzeptiert wird. „Das Leben ist nicht immer harmonisch, sondern gnadenlos.“
Die Erkenntnis: Je konservativer eine Gesellschaft ist, umso stärker ist die Abneigung von Minderheiten ausgeprägt. Dagegen will die Autorin ankämpfen. Mit dem Wissen um die Geschehnisse in ihrer Familie in der Vergangenheit kommt sie zu der Überzeugung, dass man um die Vielfalt, das Andersein und die Toleranz kämpfen muss. „Wer schweigt, bezahlt irgendwann einmal den Preis für sein Schweigen.“Wegschauen ist keine Lösung, das hilft nur den diktatorischen, autoritären Systemen, in denen auch die zu Feinden werden, die schweigend die Veränderung zu diesen Systemen geduldet haben. In ihrer türkischen Familie hat Nuran Joerißen hautnah diesen Prozess miterlebt, sie hat das Schweigen aus ihrem Koffer verbannt.
„Wir können uns unserer Vergangenheit nicht entziehen, müssen unsere Stimme erheben“