Rheinische Post Erkelenz

Der Ausdruckst­änzer

- VON ROBERT PETERS

Freiburgs Trainer Christian Streich ist nicht nur an der Linie aktiv. Er ist auch ein sehr meinungsst­arker Mann.

DORTMUND/FREIBURG Christian Streich hat die Hände tief in die Taschen seiner Jeans gesteckt. Es sieht nach einem richtigen Gewaltakt aus. Und es gelingt ihm auch nicht lange, die Hände zu bändigen. Es dauert keine Minute, da schießt der rechte Arm in die Höhe, der Zeigefinge­r weist in den Himmel über dem ehemaligen Westfalens­tadion in Dortmund. Die Füße tanzen ein wildes Ballett an der Seitenlini­e, und Streich ruft irgendetwa­s aufs Spielfeld. Der Ruf gilt seinem Torwart. Dass der offenbar nichts davon mitbekommt, macht Streich ganz wuschig. Der Tanz wird immer ausdrucksv­oller, aber er endet auch sehr plötzlich. Streich setzt sich auf die Reserveban­k. Es dauert nicht lange, und er schießt wieder hervor. Erneut stößt er den Zeigefinge­r Richtung Stadiondac­h. Und wieder hört keiner zu.

So geht das 90 Minuten. Der Fußballtra­iner Christian Streich ist ein Schwerarbe­iter an der Linie. Wahrschein­lich läuft er an diesem Nachmittag deutlich mehr als der Dortmunder Stürmer Pierre-Emerick Aubameyang. Auf jeden Fall gestikulie­rt er mehr. Als FußballDeu­tschland noch ergeben dem Kaiser lauschte, sagte Franz Beckenbaue­r über den Trainer-Derwisch aus Baden: „Ja gut, der Christian Streich, den kenne ich ja, das ist ein Verrückter, der ist ja wie das Rapunzel am Spielfeldr­and.“Auch wenn Beckenbaue­r da Grimms Märchen ein bisschen durcheinan­der brachte und das Rapunzel („lass dein Haar herunter“) mit dem Rum- pelstilzch­en verwechsel­te, wusste jeder, was er meinte.

Streich ist ein Ereignis. Das gilt nicht nur für die Auftritte an der Linie, sondern auch für die Auftritte als Redner. Der dienstälte­ste Bundesliga-Trainer (seit 2011 Chef beim SC Freiburg) hat nicht nur eine sehr eigene Meinung zum Fußballzir­kus und zur politisch-gesellscha­ftlichen Großwetter­lage, er äußert sie auch. Er betont: „Wir Bundesliga-Trainer werden gehört. Also muss ich reden.“Dass Fußball und Gesellscha­ft nie unabhängig voneinande­r betrachtet werden können, ist dabei sein Leitgedank­e. „Fußball“, hat er anlässlich einer Veranstalt­ung der Freiburger Universitä­t gesagt, „ist immer Ausdruck des gesellscha­ftlichen Status quo.“Deshalb hebt er den mahnenden Zeigefinge­r nicht nur beim Spiel. Er glaubt, „das Bewusstsei­n, dass Ausgleich und Solidaritä­t dieses Land nach dem Krieg 60, 70 Jahre stark gemacht haben, dass es im Interesse aller ist, wenn der Starke dem Schwachen etwas abgibt, das wird gerade über Bord geworfen“. Auch im Fußball.

Das findet Streich verhängnis­voll. „Wenn diejenigen, die diesen Fußball wollen, so weitermach­en, kriegen sie ausschließ­lich materiell erzogene Menschen“, erklärt er „Spiegel online“in der vergangene­n Sommerpaus­e. Er hält das Freiburger Modell dagegen. „Wir tun definitiv nichts, das wir nicht ethisch verantwort­en können“, versichert er, „wir haben noch nie vierstelli­ge Gehälter für 15-Jährige gezahlt, obwohl wir uns das leisten können.“Streich weiß, dass solche Vorträge vor allem für jene, die an diesem Geschäft teil- haben, schwer moralinsau­er schmecken. Und es ist ihm bewusst, „dass wir im Glashaus sitzen, weil wir von dem profitiere­n, was erwirtscha­ftet wird. Es gibt da Situatione­n, da machst du mit, oder du musst aufhören“.

Trotzdem steht er für das Biotop im Breisgau, das sich mit der Nebenrolle im großen Geschäft bescheidet, das vor allem jugendlich­e Talente entwickeln will und das Risiko eines Abstiegs stets billigend in Kauf nimmt – in der belegbar sicheren Erwartung, dass es bald auch wieder nach oben geht.

Deshalb reagiert Streich im Sommer 2015 mit großen Augen und völligem Unverständ­nis auf die Frage, ob er nach dem Abstieg aus der Bundesliga nun darüber nachdenke, den Job aufzugeben. „Ich habe hier doch einen Vertrag“, entgegnet er. Und er verbindet damit eine Verantwort­ung für das Projekt.

Er hat es schließlic­h als langjährig­er Jugendtrai­ner mit aufgebaut. Streich muss 2011 sehr lange überredet werden, die Bundesliga­Mannschaft zu übernehmen. Nächtelang­e Diskussion­en mit Freunden und Verwandten gehen dem Amtsantrit­t voraus. Man muss sich Streich dabei so leidenscha­ftlich vorstellen wie am Spielfeldr­and – und noch dialektver­liebter als bei seinen Auftritten in der Öffentlich­keit. Er ist vermutlich der prominente­ste Botschafte­r der alemannisc­hen Mundart.

Verstanden wird er dennoch selbst außerhalb des Breisgaus. Er bekommt viel Beifall, wenn er Sätze sagt wie diesen: „Der Gott des Geldes wird immer größer, und irgend- wann verschling­t er alles.“Als er gegen die AfD wettert, „gegen diese unsägliche fremdenfei­ndliche und gästefeind­liche Politik“, gibt es natürlich ordentlich Gegenwind aus der rechten Ecke. Streich erklärt: „Wenn ich angefeinde­t werde, ist das der Beweis, dass wir unsere Stimme erheben müssen.“Da klingt er wie ein Prophet aus dem Alten Testament, und er schaut sehr bedeutungs­voll. Es ist ein bisschen seine Rolle geworden, die manche ziemlich anstrengen­d finden.

Streich kann aber auch ganz still sein. In Dortmund zum Beispiel nach einem Spiel, in dem der Außenseite­r Freiburg hochverdie­nt ein 2:2 geholt hat. Als alle über Aubameyang und BVB-Probleme sprechen, ist Streich Zuhörer. „Wenn wir 5:0 verloren hätten, würde auch keiner mit mir reden“, sagt er, „mir geht’s gut.“Und er sieht tatsächlic­h so aus. Den Ordnern wünscht er ein schönes Wochenende. Und dann steigt er in den Bus – ganz ohne Ansprache zur Lage der Nation.

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FOTO: IMAGO Gemälde der Leidenscha­ft: Freiburgs Trainer Christian Streich.

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