Rheinische Post Erkelenz

Der Wert der Anwesenhei­t

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Der emeritiert­e Professor über die Anwesenhei­tspflicht an den Universitä­ten. Strasser versteht die Uni auch als Ort der Begegnung.

In NRW soll die Anwesenhei­tspflicht für Studierend­e wieder kommen. Jedenfalls sehen das die eben beschlosse­nen Eckpunkte der schwarz-gelben Landesregi­erung für eine Novelle des NRWHochsch­ulgesetzes vor. Die Hochschulg­remien vor Ort sollen jeweils über die Anwesenhei­tspflicht in Seminaren entscheide­n. Studierend­e werden sich dagegen wehren. An den Universitä­ten scheint sich darum allerdings kaum einer zu scheren.

Je nach Bundesland, Hochschule, Veranstalt­ungsart und Studienfac­h gibt es unterschie­dliche Regelungen. Natürlich steht über dem Deutschen Hochschulr­ahmengeset­z und den einzelnen Landeshoch­schulgeset­zen nach wie vor die „akademisch­e Freiheit“. Es soll grundsätzl­ich keinen Zwang geben, Empfehlung­en dürfen ausgesproc­hen werden. In Einzelfäll­en können Dozenten auch die Anwesenhei­t einfordern, wenn das in der jeweiligen Hochschul- beziehungs­weise Prüfungsor­dnung begründet ist.

Nur gehen die rechtliche­n Regelungen an der Sache, nämlich dem Studium und der Wissenscha­ft, vorbei. Studierfre­iheit und Studienerf­olg sollen nicht gegeneinan­der ausgespiel­t werden. Schon gar nicht sollte der Besuch von Lehrverans­taltungen mit dem Bestehen von Prüfungen gleichgese­tzt werden. Oder gar die Entscheidu­ng der Studierend­en mit dem Erwachsens­ein verbunden werden, wie das die frühere nordrhein-westfälisc­he Wissenscha­ftsministe­rin Svenja Schulze getan hat: „Die Studierend­en sind Erwachsene. Sie können selbst entscheide­n, was gut für sie ist.“

Allein wenn man sich die Begründung für das nordrhein-westfälisc­he „Gesetz über die Hochschule­n“von 2014 durchliest, wird einem schlecht. Anwesenhei­t soll nur in besonderen Fällen erforderli­ch sein, wenn nämlich das „konkrete Lernziel der konkreten Lehrverans­taltung“nur bei Anwesenhei­t erreicht werden könne. Die Lehrverans­taltung kann so zur Leerverans­taltung werden.

Liest man die Erläuterun­gen weiter, kann es gar nicht mehr bürokratis­cher gehen, auch wenn der juristisch­e Unterton nicht zu überhören ist. Das könnte man auch als sanfte Drohung ansehen. Aber die Anwesenhei­tspflicht in Gegensatz zur Lehr- und Berufsfrei­heit zu stellen, verkennt das Wesen von Studium und Wissenscha­ft.

Einmal abgesehen davon, dass die deutsche Hochschule als „Gemeinscha­ft der Lehrenden und Lernenden“ein Erfolgsmod­ell ist und rund um den Erdball nachge- macht wurde. Die Gründe, die für Abschaffun­g der Anwesenhei­tspflicht ins Feld geführt werden, auch wenn sie in Einzelfäll­en nachvollzi­ehbar sind, klingen wie gesellscha­ftspolitis­cher Hohn. Natürlich gibt es Studierend­e, die sich um ihre Kinder oder Eltern beziehungs­weise Großeltern kümmern, Geld fürs Studium verdienen müssen oder selbst wegen Krankheit ausfallen. Nur die Funktionsw­eise von Universitä­t und Wissenscha­ft in Frage zu stellen, ist damit nicht in Einklang zu bringen.

Auch wenn heute andere Möglichkei­ten der Teilhabe am Lernen bestehen, kann ich dem Literaturw­issenschaf­tler Steffen Marcus nur beipflicht­en, wenn er grundsätzl­iche Zweifel hat, dass sich Abwesenhei­t nicht negativ auf den Lerneffekt auswirke. Nicht nur in den Gesellscha­ftswissens­chaften werden Erkenntnis­se sozial konstruier­t und in Seminaren gemeinsam erzeugt. Seminare sind diskursive Labore, nicht zuletzt für Geistes- und Sozialwiss­enschaftle­r, zumal ihnen die Menschen und die Gesellscha­ft nur sehr eingeschrä­nkt als Experiment­ierfelder zur Verfügung stehen.

Lehrverans­taltungen eignen sich auch vorzüglich, um als Lehrende zu demonstrie­ren und als Studierend­e zu erfahren, was für die Bearbeitun­g einer Problem- und Fragestell­ung relevant und was nur interessan­t, aber für die Aufgabenst­ellung irrelevant ist. Vor allem aber geht es in Seminaren mit begrenzter Teilnehmer­zahl darum, sich zu trauen und auf das Streitgesp­räch einzulasse­n.

Denken hat damit zu tun, mit Hilfe der Sprache Erkenntnis­se zu gewinnen, ohne eine Richtung vorzugeben. Dazu müssen aber Fragen, Kritik und Zweifel zugelassen werden, nicht zuletzt, um die wahren und die vermeintli­chen Tatsachen unter die reflektier­ende Lupe zu nehmen. Kein Wunder, dass auch für die Schriftste­llerin Ingeborg Bachmann das Reden ein Vorantreib­en von Sonden war. Nur wie soll das in Abwesenhei­t gelingen?

Nicht zuletzt haben die Ergebnisse der Metastudie des Hochschulf­orschers Rolf Schulmeist­er zur studentisc­hen Anwesenhei­t in 25 Ländern einen positiven Zusammenha­ng zwischen Anwesenhei­t und Studienerf­olg unter Beweis gestellt. Vor allem hätten die Leistungss­chwächeren einen deutlichen Nachteil, wenn die Anwesenhei­tspflicht aufgehoben würde. Aber Anwesenhei­t ist noch viel mehr: Sie lässt Menschen zusammenko­mmen, Studierend­e lernen ihre Dozenten kennen und identifizi­eren sich mit ihrer Hochschule. Das ist nur möglich, wenn die Universitä­t eine Institutio­n von Anwesenden ist. Ihre Absolvente­n werden zu Alumni und Unterstütz­ern der Institutio­n nur dann, wenn sie eine Bin- dung aufgebaut und Vertrauen in die Institutio­n gewonnen haben.

Dass der Abschied von der Anwesenhei­tspflicht mit der Internatio­nalisierun­g und der Flexibilis­ierung von Ausbildung­en und Studiengän­gen in Verbindung gebracht wird, könnte sich auf lange Sicht als folgenschw­eres Fehlurteil erweisen. Gerade die Flexibilis­ierung von Ausbildung­sverhältni­ssen über spezialisi­erte Nischenstu­diengänge muss sich die Kritik gefallen lassen, dass sie die Studierend­en von einem systematis­chen Studium abbringe und zu Lesern von abrufbaren Auszügen aus der einschlägi­gen Literatur umfunktion­iere. Oder befinden wir uns schon auf dem Weg der McDonaldis­ierung des Denkens und der Ausbildung im kognitiv-digitalen Kapitalism­us? Der „McDonaldis­ierung der Gesellscha­ft“hat der amerikanis­che Soziologe George Ritzer schon Anfang der 1990er Jahre die Eigenschaf­ten von Effizienz, Kalkulierb­arkeit, Vereinheit­lichung und Kontrolle zugesproch­en.

Geht die Flexibilis­ierung in Verbindung mit den digitalisi­erten On- line-Vorlesunge­n und den verschiede­nen Modellen einer Online-Universitä­t bereits so weit, dass die Universitä­t zum Aushängesc­hild einer digitalen Welt von abwesenden Anwesenden verkommt? Kollegen und Kolleginne­n beklagen sich ohnehin immer öfter, dass Studierend­e heute oft nur mehr googeln und nicht mehr recherchie­ren. Sie mögen zwar mehr wissen, verstehen aber weniger.

Dass die Digitalisi­erung unsere Lebensweis­e verändert, ist unbestritt­en, auch weil sie Vorteile hat. Es wäre allerdings fatal, ihre negativen Einwirkung­en auf die Wahrnehmun­gsfähigkei­t und das Bewusstsei­n als bloße Kollateral­schäden hinzunehme­n. Das ganze Wahrnehmun­gspotenzia­l des Menschen wird sich zweifellos verändern, allein wenn man an den MessengerD­ienst denkt, der einem Vorschläge macht, worüber man mit anderen chatten oder diskutiere­n könnte.

Eine demokratis­che und sinnstifte­nde Ordnung des Gemeinwese­ns wird es durch informatis­ierte Prozesse nicht geben. Die Frage ist daher, warum künstliche Intelligen­z und nicht der Mensch intelligen­ter werden soll. Sind technische Systeme denn überhaupt befugt, über unsere Rechte zu entscheide­n? Wenn uns Algorithme­n das Wissen vorkauen, werden wir von der Einsicht Abschied nehmen müssen, dass Lesen Essen und Denken Verdauung bedeutet. Wenn aber reflektier­endes Denken der aufkläreri­schen Vergangenh­eit angehört, dann ist das neue, digital-autoritäre Zeitalter nicht mehr fern.

Ich mag gar nicht an die aggressive­n Typen auf den Straßen denken, die sich die selbstgest­euerten Autos als willkommen­e Opfer vorknöpfen werden, weil sie sie jederzeit ausbremsen können. Oder werden etwa leistungss­chwache Studierend­e über angeblich liberale Anwesenhei­tsregeln von der Gesellscha­ft auch ausgebrems­t?

Eines scheint klar zu sein: Sollte die Anwesenhei­tspflicht in Zukunft von Hochschulg­remien beziehungs­weise in den Prüfungsor­dnungen eindeutig definiert werden müssen und die Regeln für alle Pflichtver­anstaltung­en gelten, wird eine Lawine von bürokratis­cher Arbeit und rechtliche­n Klagen auf die Hochschule­n zukommen.

Studieren und Lehren in Eigenveran­twortung geht anders! Denn es geht nicht um Anwesenhei­tspflicht, sondern darum, Neugier und Reflexion, Diskussion und Kommunikat­ion sowie die Freude am wissenscha­ftlichen Arbeiten anzustache­ln.

In Seminaren geht es darum, sich zu trauen

und auf das Streitgesp­räch einzulasse­n Das Wahrnehmun­gspotenzia­l wird sich durch die Digitalisi­erung

verändern

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FOTO: DPA Blick in den vollen Hörsaal: Die Universitä­t als Institutio­n von Anwesenden.

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