Rheinische Post Erkelenz

Merkels Groko: Links und frei

- VON MICHAEL BRÖCKER

Drei Begriffe stehen im Koalitions­vertrag ganz vorne: Dynamik. Aufbruch. Zusammenha­lt. Wer die jüngsten Auftritte von Martin Schulz, Angela Merkel und Horst Seehofer (Durchschni­ttsalter: 64,3 Jahre), die Namen des möglichen Kabinetts und das Gerangel um die Interpreta­tionen der Beschlüsse erlebt hat, dem fallen viele Begriffe ein, aber nicht diese drei.

Doch der Reihe nach. Es kommt auf die Inhalte an, heißt es. Die lassen sich mit einem alten WillyBrand­t-Bonmot ganz gut zusammenfa­ssen: „Links und frei“. Der Koalitions­vertrag atmet den Geist der Bewahrung, der Besänftigu­ng von Gruppen, des Etatismus. Da steckt viel mehr SPD drin, als die 20 Prozent der Partei erahnen ließen.

Horst Seehofer hat es zugegeben: Man wollte Gutes tun für die Unzufriede­nen. Also schüttet diese Koalition Milliarden aus für Eltern, Rentner, Mütter, Pflegende, Versichert­e, Bahnreisen­de, Autofahrer. An strukturel­le Fragen zur Wettbewerb­sfähigkeit des Landes traut sich das Bündnis nicht, abgesehen von der sinnvollen Abschaffun­g des Kooperatio­nsverbots. Eine Steuerrefo­rm, die Leistung belohnt, bleibt in Zeiten von Rekordeinn­ahmen aus. Der Solidaritä­tsbeitrag wird für viele, aber eben nicht für alle abgeschaff­t. Die überpropor­tional steigende Steuerlast bei Lohnzuwäch­sen („kalte Progressio­n“) wird nur überprüft, eine Reform der Mehrwert- oder Gewerbeste­uer gar nicht angetastet. Die Förderung von Forschung und Entwicklun­g bleibt vage. Dafür dürften die Sozialbeit­räge steigen, anders lassen sich die sozial- und rentenpoli­tischen Verspreche­n nicht finanziere­n.

Dynamik? Aufbruch? Es ist richtig, dass Auswüchse bei befristete­n Jobs zurechtges­tutzt werden. Aber warum führt eine CDU-Kanzlerin nur neue Subvention­en ein, vom Baukinderg­eld bis zur Grundrente? Eine alternde Gesellscha­ft braucht eine leistungsf­ähige Basis. Der Begriff „Konsolidie­rung“kommt im Koalitions­vertrag im Zusammenha­ng mit Finanzpoli­tik nicht vor. Angela Merkel wirft die schwäbisch­e Hausfrau, auf die sie sich einst berief, aus dem Kabinett. arum wird nur über mehr Geld für Europa gesprochen und nicht darüber, wie bestehende Budgets wirksam für Zukunftsbe­reiche eingesetzt werden? Der Rechtsansp­ruch auf Ganztagsbe­treuung für Grundschul­kinder ist richtig, aber warum haben Millionen Haushalte und Unternehme­n keinen Rechtsansp­ruch auf schnelles Internet? In der Sozialpoli­tik wird geklotzt, aber bei Zukunftsth­emen wird es knauserig. Und dass Peter Altmaier zuletzt durch wegweisend­e ordnungspo­litische Ideen aufgefalle­n wäre, würde nicht einmal er selbst behaupten. Nun wird er Nachfolger von Ludwig Erhard.

Links und frei. Frei interpreti­erbar sind viele Beschlüsse: Während die Union vom Ende des Familienna­chzugs spricht, redet die SPD vom Einstieg. Die CSU lobt die Obergrenze bei der Zuwanderun­g, die SPD verweist auf das Grundrecht auf Asyl, das keine Grenzen kennt. Die SPD spricht vom Einstieg in die Bürgervers­icherung, die CDU vom Gegenteil. Das dürfte vier Jahre kaum gut gehen.

Angela Merkel hat der SPD mit Außen-, Finanz- und Sozialress­ort die Schlüsselr­essorts überlassen. Die SPD spricht schon vom „Richtungsw­echsel“in der Europapoli­tik. Wer die Partei kennt, ahnt: es geht um mehr Geld. Die Mehrheit der Deutschen fürchtet aber eine Transferun­ion. Angela Merkel offenbar nicht. Mit dem pragmatisc­hen Hanseaten Olaf Scholz zieht immerhin ein Sozialdemo­krat in das Finanzmini­sterium ein, der sich eher an Helmut Schmidt als an Ralf Stegner orientiert. Und Martin Schulz? Der macht den Westerwell­e. Er klammert sich an das Amt, das Popularitä­t verspricht, und gibt dafür den Parteijob ab. Anstatt die Basis zu befrieden und sich durch die Kärrnerarb­eit neue Reputation zu erarbeiten, geht er ins Kabinett. Da wollte er nie hin – eine beispiello­se Kehrtwende. Die Kanzlerin wird künftig die Leitlinien der Politik mit Frau Nahles und Herrn Scholz besprechen. Sozialdemo­kratische Leitlinien. Diese SPD-Regierung wird von Angela Merkel toleriert. BERICHT

W

Newspapers in German

Newspapers from Germany