Rheinische Post Erkelenz

„ Jetzt erst mal schlafen“

- VON GREGOR MAYNTZ UND HOLGER MÖHLE

Das Ringen um Details im Koalitions­vertrag endete erst nach durchverha­ndelter Nacht – und nicht bei allen mit ausgelasse­ner Stimmung.

BERLIN Wenn dieser Morgen nach durchgearb­eiteter Nacht optisch halten soll, was die Parteien inhaltlich vereinbart haben, dann ist der Start gründlich versemmelt. Diese übermüdete­n Gestalten, die gerade 18, 20 oder auch mehr als 24 Stunden verhandelt haben, könnten vielleicht in einem Imagefilm für abgekämpft­e Feuerwehrl­eute auftreten, als Überlebend­e einer Schiffskat­astrophe durchgehen oder am Ende einer Zeitraffer-Studie über Altern in der Politik stehen. Aber für einen „neuen Aufbruch für Europa“? Für eine „neue Dynamik für Deutschlan­d?“Das bleibt zunächst mal nur die Überschrif­t ei- nes Koalitions­vertrages mit stark unterkühlt­er Beweiskraf­t.

Doch Erschöpfun­g und Freude schließen sich nicht aus. Das zeigt das Gruppen-Selfie der SPD-Unterhändl­er. Sechs Ministerpo­sten nach einem 20,5 Prozent-Misserfolg. Ganz offensicht­lich hat die SPD das Angekündig­te wahr gemacht: verhandelt, bis es quietscht. SPD-Chef Martin Schulz kann sich bei der offizielle­n Kurz-Vorstellun­g des Erreichten einen Seitenhieb gegen die Widersache­r in den eigenen Reihen nicht verkneifen. Auch Forderunge­n der Jusos seien durchgeset­zt worden. Soll sagen: Ihr versucht nun mithilfe des Mitglieder­entscheids, die eigene Politik zu verhindern.

Fröhliche Gesichter auch bei der CSU. Sie haben nicht nur inhaltlich gepunktet, sie können die Einhaltung der Innen- und Migrations­politik auch selbst in die Hand nehmen. Nachdem die SPD das auch von CSU-Chef Horst Seehofer angestrebt­e Arbeits- und Sozialmini­sterium behalten darf, haben sich die Christsozi­alen das Innenresso­rt für ihren Parteichef geschnappt. Der 68-Jährige dürfte das nach dem jahrelange­n Kampf gegen die Kanzlerin als persönlich­e Genugtuung begreifen. Einem 43-Jährigen mag die Power-Erholung ohnehin leichter fallen. Noch-CSU-Generalsek­retär Andreas Scheuer reicht dieses Mal eine Kurzdusche, und er wirkt schon wie ein vorwärtsst­ürmender Bundesmini­ster. Vielleicht auch, weil er weiß, dass er es wirklich wird.

Da ist die Stimmung bei der CDU deutlich verhaltene­r. Sarkastisc­h fragt sich einer, ob er eher ein Ja des eigenen Parteitage­s bezweifeln oder ein Nein des SPD-Mitglieder­entscheids erhoffen soll. Deutlich gerupft kommen die Christdemo­kraten aus dem Heimspiel im eigenen Haus. Und für manche ist es auch mit den eigenen Spitzenjob­s vorbei. Noch-Innenminis­ter Thomas de Maizière versucht, sein Ausscheide­n aus der Regierung mit Fassung zu tragen, so wie er die Verhandlun­gen in der Arbeitsgru­ppe Migration ruhig durch aufgewühlt­e politische See schaukelte. Er parierte einen harten Schlagabta­usch zwischen CSU und SPD, aber nach erfolgreic­hem Ergebnis hat der CDU-Mann nun seine Schuldigke­it getan. Deutlich gefasst reagiert auch einer, der nicht aus-, sondern ganz weit aufsteigt. „Ganz gut“gehe es ihm, meint ein lächelnder Erster Bürgermeis­ter aus Hamburg, Olaf Scholz, als er um 10.43 Uhr den Ort der zweiten Verhandlun­gsverlänge­rung verlässt. Das erste Projekt des wahrschein­lich künftigen Finanzmini­sters und Vizekanzle­rs hat jedoch wenig mit Euro und Finanzen zu tun: Er werde jetzt „erst mal schlafen“.

Scholz dürfte längst im Reich der Träume sein, als die drei Parteichef­s immer noch zusammensi­tzen und noch weitere Differenze­n aus dem Weg räumen. An der Ressortver­teilung hätte diese Koalition durchaus noch einmal scheitern können. Deshalb die lange Nacht, die erst endet, als die Mittagsson­ne bereits übernommen hat. Angela Merkel will für den Koalitions­vertrag werben. Schulz preist die sozialdemo­kratische Handschrif­t. Das reizt Seehofer zum Widerspruc­h an die Adresse vom „lieben Martin“: Welche Handschrif­t dieser Vertrag trage, das halte er sich offen bis zum Politische­n Aschermitt­woch. Jedenfalls kann er es aus CSU-Sicht beim Blick auf 277 Seiten ganz kurz machen. „Passt scho.“

Offensicht­lich hat die SPD das Angekündig­te wahr gemacht: verhandelt, bis es

quietscht

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