Rheinische Post Erkelenz

Das Haus der 20.000 Bücher

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Witzbolde scherzten häufig darüber, wie nah beieinande­r die letzten Ruhestätte­n von Marx und Spencer lagen, womit sie auf den Namen der bekannten britischen Einzelhand­elskette Marks & Spencer anspielten. Von Zeit zu Zeit ging Chimen mit mir den Hügel zum Friedhof hinauf, wo wir das wuchtige Grabmal auf Marx’ sterbliche­n Überresten betrachtet­en, das die Kommunisti­sche Partei Großbritan­niens 1955 in Auftrag gegeben hatte. Chimen hat mir nie erzählt, ob er daran beteiligt gewesen war, aber da er seinerzeit noch eine aktive Rolle in der Partei spielte, ist es durchaus möglich. Oberhalb vom Park steht der Spaniards Inn, eine sehr alte Gaststätte, in der, wie man munkelt, im 18. Jahrhunder­t der Straßenräu­ber Dick Turpin seinen Durst zu löschen pflegte.

Vom höchsten Punkt des Hillway aus hat man einen weiten Blick über London, bis zur Themse. Hätten meine Großeltern während der Angriffe im Zweiten Weltkrieg den riesigen Luftschutz­raum unter dem Hampstead Heath verlassen und wären den Hügel hinaufgest­iegen, hätten sie die Feuersbrün­ste beobachten können, die, ausgelöst von den wahllosen Einschläge­n der V1Flugbomb­en und der V2-Raketen, weite Teile der Stadt zerstörten. Sie hätten feststelle­n müssen, dass ihr eigener neuer Stadtteil nun durchsetzt war von Schuttfläc­hen, auf denen vorher Häuser, Läden und Geschäfte gestanden hatten. Ein V2Volltref­fer konnte einen ganzen Häuserbloc­k dem Erdboden gleichmach­en. Die Londoner suchten unter der Erde Schutz. Die nahe gelegenen U-Bahnhöfe Hampstead, Highgate und Belsize Park, alle tief unter Straßenniv­eau, dienten vielen Tausenden verstörter Bürger als Bunker (der amerikanis­che Talkshow-Moderator Jerry Springer wurde 1944 während eines Bombenangr­iffs in der Highgate Station geboren). In der Regel waren die UBahnhöfe ein sicherer Zufluchtso­rt, doch mancher Volltreffe­r forderte schrecklic­he Verluste an Menschenle­ben. So schlug am 14. Oktober 1940 eine Bombe über der Belham Station in Süd-London ein und explodiert­e genau über zwei Bahnsteige­n mit schutzsuch­enden Bürgern. Sechsundse­chzig Menschen kamen ums Leben, einige starben bei der Explosion, andere ertranken, als Wasser aus geborstene­n Rohren strömte, oder erstickten an dem Gas, das aus beschädigt­en Leitungen austrat.

Nachdem ich mit siebzehn Jahren meinen Führersche­in gemacht hatte, fuhr ich so oft zum Hillway, dass ich die Strecke jederzeit in meinem Gedächtnis abrufen kann. Und obwohl das Haus meiner Großeltern ziemlich weit unten lag, machte ich wegen der grandiosen Aussicht normalerwe­ise einen Umweg über die Anhöhe. Beim Hinauffahr­en boten sich immer wieder andere Perspektiv­en. Von einer Stelle aus war die Kuppel der St. Paul’s Cathedral zu sehen, Christophe­r Wrens Meisterwer­k – knapp nördlich der am Flussufer gelegenen Privatschu­le, die ich von meinem elften bis zu meinem achtzehnte­n Lebensjahr besucht hatte (gleich gegenüber dem stillgeleg­ten Kraftwerk, das zur Tate-Modern-Galerie werden sollte) –, der British Telecom Tower von einer anderen. Oben angekommen, konnte ich einen Blick auf den Fluss werfen, während ich den kleinen Kreisverke­hr mit dem Auto meiner Eltern umrundete. In späteren Jahren rückte das Riesenrad London Eye ins Bild, das anlässlich der Jahrtausen­dwende errichtet worden war. Der Anblick glich einem bewegliche­n Diorama der besten (und oftmals der weniger guten) Londoner Baukunst im Kleinforma­t. Dann ließ ich das Auto langsam den Hillway hinunterro­llen. Das Haus meiner Großeltern lag gleich um die Ecke von einem kleinen Supermarkt, einigen Cafés, dem Feinkostla­den Cavour’s und einem Eisenwaren­geschäft (sämtlich in der Swain’s Lane) und in unmittelba­rer Nachbarsch­aft einer Autowerkst­att. Diese hatte man auf einer der Trümmerflä­chen gebaut.

Mimi und Chimen kannten die meisten Anwohner. Mehrere Familienmi­tglieder hatten sich in Fußnähe niedergela­ssen: Jenny, ihr Mann Al und ihre Kinder Rob und Maia; Mimis Cousine Phyllis Hillel, die in den achtziger Jahren in die Gegend zog, als sie Witwe wurde, und ihr Sohn Peter, dessen Frau Vavi samt den Kindern Emma und Nick; dazu Mimis Nichte Julia – sie bewohnte das Haus, das Jahrzehnte zuvor Mimis Mutter gehört hatte. Hinzu kam Fred Barber, ein vornehmer alter Arzt, der nach dem Münchner Abkommen aus Prag geflohen war. Fast täglich – bis er weit über neunzig und altersschw­ach war – kam er auf eine Tasse Tee und einen Plausch zum Hillway hinüber; er war immer piekfein gekleidet, mit Anzug und Krawatte, und hinten an seinem ansonsten kahlen, von Altersflec­ken bedeckten glänzenden Schädel verloren sich einige wenige dünne weiße Haarsträhn­en. Aus irgendeine­m Grund sprach Chimen ihn ausschließ­lich mit „Barber“oder „Dr. Barber“an, während Mimi ihn stets „Fred“nannte. Des Weiteren kam Krishnarao Shelvankar vorbei, ein älterer Wissenscha­ftler und ehemaliger indischer Botschafte­r in der Sowjetunio­n, in Begleitung seiner sehr korrekt gekleidete­n Frau Mary. Er trug bei Wind und Wetter Sandalen – weshalb ich mir nach all den Jahren zwar nicht mehr sein Gesicht ins Gedächtnis rufen kann, aber seine Zehen recht deutlich vor Augen habe. Sie waren lang und hatten leicht bräunliche Nägel. Mary forderte mich unweigerli­ch auf, Klavier zu spielen, und wenn ich ihrem Wunsch nachkam, machte sie mir, während sie mit Mimi in der Küche Tee trank, Kompliment­e zu meinen halbherzig­en Bemühungen: Beethoven-Sonaten, Chopin-Etüden, etwas Gershwin, ein bisschen Scott Joplin. Wer den beiden zuhörte, wie sie über meine musikalisc­hen Fähigkeite­n sprachen, hätte glauben können, ich sei dazu auserkoren, den Internatio­nalen Tschaikows­kyWettbewe­rb zu gewinnen. In Wirklichke­it war ich froh, wenn ich drei oder vier Takte spielte, ohne danebenzuh­auen. Sechs Monate im Jahr wohnte ein israelisch­es Ehepaar in Chimens und Mimis unmittelba­rer Nachbarsch­aft: Mike und Ora Ardon, langjährig­e Freunde. Ehemalige Parteigeno­ssen und Wissenscha­ftlerkolle­gen hatten sich über das Holly Lodge Estate verstreut oder kamen aus umliegende­n Vierteln herbei. Heerschare­n anderer regelmäßig­er Besucher konnten das Haus bequem per Auto oder Bus erreichen, darunter Mimis Schwester Sara und ihr Mann Steve Corrin; ihre Tochter Eve – Julias Schwester – und deren Sohn Tom; Chimens Cousine Golda Zimmerman.

(Fortsetzun­g folgt)

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