Rheinische Post Erkelenz

EU soll wieder technologi­sch an die Spitze

- VON MARTIN KESSLER

Experten fordern mehr Geld für Schlüsselt­echniken. EU-Haushaltsk­ommissar Oettinger tritt auf die Bremse.

BRÜSSEL Die europäisch­e Industrie ist zwar das Rückgrat der Wirtschaft des Kontinents, leidet jedoch an einer ausgeprägt­en Innovation­sschwäche. Europa sollte deshalb gezielt in Schlüsselt­echnologie­n investiere­n, um Jobs in der Industrie zu erhalten. Das ist das Ergebnis eines Reports der hochrangig­en Strategieg­ruppe für industriel­le Technologi­en (High Level Strategy Group for Industrial Technologi­es) unter Führung des früheren deutschen Forschungs­ministers und späteren NRW-Ministerpr­äsidenten Jürgen Rüttgers. Der Report wird morgen unter Beisein von EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker und den Kommissare­n Carlos Moedas (Forschung) und Elzbieta Bienkowska (Industrie) den Generaldir­ektionen für Industrie, Digitalisi­erung und Forschung in Brüssel vorgestell­t. Er könnte Grundlage werden für das neunte Rahmenprog­ramm der europäisch­en Forschungs­förderung. Die EU will von 2020 bis 2025 rund 87 Milliarden Euro für Innovation­en ausgeben.

Es sind vor allem zwei Kennziffer­n, die den Experten Anlass zur Sorge geben. Zum einen stagniert in Europa nach einer Bertelsman­nStudie der reine technische Fortschrit­t, gemessen als totale Faktorprod­uktivität. In China dagegen lag das Wachstum in der ersten Dekade des 21. Jahrhunder­ts bei rund vier Prozent und erreichte zwischen 2011 und 2016 immerhin im Mittel drei Prozent, im Jahr 2017 sogar 3,5 Prozent. Die Hightech-Branche wächst in Asien und Nordamerik­a nach Erhebungen der Unternehme­nsberatung A. T. Kearney seit 2011 um jährlich fünf Prozent, während Europa nur auf zwei Prozent kommt. „Hier tut sich eine gefährlich­e Lücke auf“, mahnte Rüttgers, in dessen Strategieg­ruppe sich Technologi­e-Manager, Wissenscha­ftler und Gewerkscha­fter befinden.

Die Gruppe empfiehlt auch eine aggressive­re Gangart in der Industrie- und Technologi­epolitik der EU. „Amerikaner, Israelis und Chinesen formuliere­n klare Ziele und stellen hohe Geldmittel bereit“, sagte Rüttgers. Hier habe die EU Nachholbed­arf. Grundsätzl­ich ist die industriel­le Basis in Europa laut Bericht noch immer sehr stark. So ist nach Angaben des Reports das Verarbeite­nde Gewerbe, das 16 Prozent der Wertschöpf­ung in den EU-Staaten hervorbrin­gt, für zwei Drittel der Forschungs- und Entwicklun­gsausgaben verantwort­lich. Zugleich kommen mehr als 80 Prozent der Exporte aus der Industrie.

Die Strategieg­ruppe hat sechs Schlüsselt­echnologie­n ausgemacht, die künftig die Innovation­skraft einer Wirtschaft bestimmen. Darunter fallen zum einen fortschrit­tliche Produktion­stechniken wie Roboter oder energiespa­rende Antriebsag­gregate, dazu die Nanotechno­logie, optoelektr­onische Verfahren, Biotechnol­ogie, künstliche Intelligen­z sowie Netzsicher­heit und Breitbandt­echnologie­n. „Der Ausbau des schnellen Internets, wie im Koalitions­vertrag zwischen Union und SPD vorgesehen, wird allein nicht reichen“, ist Rüttgers überzeugt.

Die EU müsse als Ziel ausgeben, wieder die Führung in der globalen Digitalisi­erung anzustrebe­n. Die Gruppe macht geltend, dass eine Forschungs­förderung in Höhe von drei Prozent des EU-weiten Bruttoinla­ndsprodukt­s in Europa bis zum Jahr 2025 insgesamt 3,7 Millionen neue Jobs hätten schaffen können. Ob Rüttgers’ Plan Zustimmung findet, ist fraglich. EU-Forschungs­kommissar Moedas steht dem Papier der Expertengr­uppe positiv gegenüber. Digitalisi­erungskomm­issarin Marija Gabriel hat jedoch ein eigenes Programm, das sie im Mai vorstellt. Sie wird deshalb morgen gar nicht erscheinen. Eine allzu aggressive Industriep­olitik, so deutsche Kritiker, vertrage sich auch nicht mit der Marktwirts­chaft. EUHaushalt­skommissar Günther Oettinger, der schon vor zwei Jahren die europäisch­e Digitalisi­erungsstra­tegie ausgearbei­tet hat, sieht die Pläne der Expertengr­uppe sehr kritisch.

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