Das Haus der 20.000 Bücher
In den vierziger und frühen fünfziger Jahren waren seine zur Veröffentlichung gedachten Schriften, häufig unter Pseudonymen verfasst, eher propagandistischer als wissenschaftlicher Natur. Er stand eine Weile im Kontakt mit der Historikergruppe der Kommunistischen Partei und leistete sich die Mitgliedschaft, sofern er die Jahresbeiträge zusammenkratzen konnte, doch nahm er nicht regelmäßig an den Treffen teil. Gelegentlich schrieb er eine historische Abhandlung für sie, aber die meisten seiner kommunistischen Beiträge waren entweder Flugblätter, die sich an die Juden des Londoner East End wandten, oder Artikel und Leitartikel für das Parteiorgan Daily Worker, den Jewish Clarion sowie für andere Zeitschriften und Zeitungen. Die Texte steckten überwiegend voller Klischees und waren von Parteijargon durchsetzt. Ein Merkblatt mit zehn Stichpunkten aus den späten vierziger Jahren – es trug den Titel „Warum die Juden für die Kommunisten stimmen sollten“– stellt ein typisches Beispiel dar. Unter Punkt sechs wurde geduldig erklärt: „Die Kommunistische Partei verwahrt sich dagegen, dass der Lebensstandard der Arbeiterklasse gesenkt werden müsse, nur um die Habgier der amerikanischen Dollarbankiers zu befriedigen.“1946 äußerte er sich als „C. Chimen“kritisch über den wachsenden Druck, einen jüdischen Staat in Israel zu gründen: „[Die] ungebremste defätistische Propaganda, die behauptet, es gebe für die Juden in Europa keine Zukunft, hat erheblich dazu beigetragen, die vertriebenen Juden zu Handlangern des Imperialismus zu machen.“Nur in seiner Privatkorrespondenz gestattete es sich Chi- men, den Nebel des Jargons zu lichten und seinen vielfältigen Interessen freien Lauf zu lassen. An Harold Laski schrieb er über die Wirkungsweise der parlamentarischen Demokratie. In Mitteilungen an Isaiah Berlin erörterte er, ob Marx von Machiavelli beeinflusst worden sei oder nicht. Er verfasste Briefe über jüdische Geschichte und grübelte seitenlang über die großen Philosophen. Und vom Zeitgeschehen sprang er zu politischen Dramen im Mittelalter.
Für Chimen waren Briefe ein wichtiges intellektuelles Sicherheitsventil, das Genre, in dem er sich besonders ungezwungen und spontan ausdrücken konnte. Er teilte die Meinung, die Alexander Herzen 1862 gegenüber seinem Freund Turgenjew dargelegt hatte: „Um der Abschweifungen und Einschübe willen sind Briefe an Freunde die mir liebste Form des Schreibens; darin kann man ohne Verlegenheit ausführen, was einem gerade in den Sinn kommt.“Im Laufe der Jahrzehnte verfasste Chimen Zehntausende von Briefen samt Durchschlägen für die Nachwelt (wenn er kein Kohlepapier zur Hand hatte, schrieb er die Originale einfach noch einmal ab, bevor er sie unterzeichnete und verschickte und die Duplikate zu den Akten legte). Die Länge der Botschaften bewegte sich zwischen ein oder zwei Zeilen, mit denen er Verabredungen traf, und mehreren Seiten für Abhandlungen über die großen politischen Denker, Philosophen, Historiker, Künstler und Musiker der letzten Jahrtausende. In manchen Briefen ging es darum, Forschungsstipendien für bedürftige Studenten zu arrangieren, in anderen um die wichtigen politischen Ereignisse des Tages. Seine Korrespondenz mit Freunden wie Sraffa und Isaiah Berlin deckte ein riesiges Themengebiet ab. 1958 hatte der Slawist und Bibliothekar John Simmons aus Oxford Chimen mit dem berühmten Philosophen bekannt gemacht. Gleich im darauffolgenden Jahr hatte er Berlin russische literarische Werke unter anderem von Puschkin für ungefähr 150 Pfund verkauft. „Sie sind“, schrieb Berlin seinem Freund im Juni 1979, „ein außerordentlich ehrlicher, scharfsichtiger und sensibler Mann und Wissenschaftler, und die Tatsache, dass Sie einige gute Seiten an mir sehen, erfüllt mich mit dringend benötigtem Selbstvertrauen.“Chimen nannte diese Schreiben megile – ein jiddischer Begriff, der sich grob als „lange, detaillierte Erklärung oder Darstellung“übersetzen lässt. An anderer Stelle bezeichnete er sie als megila (hebräisch für „Schriftrolle“). Tausende dieser Briefe werden im Archiv des University College London verwahrt. In einem Lagerraum, den mein Vater gemietet hatte, nachdem der Hillway entrümpelt worden war, standen etliche große Pappkartons mit Teilen von Chimens Korrespondenz. Andernorts fanden sich vierundzwanzig weitere Kassetten – jeweils mit Hunderten von Briefen, die er verschickt und empfangen hatte.
Nach Chimens Tod entdeckten meine Tante und mein Vater in einem Geheimfach an der Rückseite des gewaltigen Rollsekretärs in seinem Schlafzimmer eine Sammlung von Briefen, viele davon handgeschrieben, die an Harold Laski von der London School of Economics adressiert waren. Sie stammten von Berühmtheiten wie Premierminister Stanley Baldwin, dem Philosophen Bertrand Russell, dem Verleger und Herausgeber des Manchester Guardian C. P. Scott sowie Fabi- an Sidney und Beatrice Webb – Letztere legte Mitte der zwanziger Jahre in einem Austausch mit Laski, ihrerseits geschrieben mit einer schlampigen, zuweilen fast unleserlichen Klaue, eine überraschende Schwärmerei für Mussolinis Faschisten an den Tag. In einem anderen Stapel fand sich ein verblasstes Handschreiben von Turgenjew in englischer Sprache, mit russischen Einsprengseln und seiner Unterschrift in kyrillischen Buchstaben, das er 1891 aus dem französischen Bougival an einen unbekannten Freund geschickt hatte; es erwies sich als einziges Exemplar aus dem Fundus von Turgenjew-Briefen, das Chimen für sich behalten hatte. „Ich bin allein hier, habe eine furchtbare Grippe und werde nicht vor Ende nächster Woche nach Paris zurückkehren“, berichtete der große Schriftsteller. „Glaub mir. Mit sehr freundlichen Grüßen, Iw. Turgenjew.“Chimen hatte Sraffa berichtet, er habe fast alle Turgenjew-Manuskripte, darunter vier Seiten einer unveröffentlichten Erzählung, weiterverkauft. Es gab jedoch noch eine weitere Ausnahme: Aus der Korrespondenz zwischen Isaiah Berlin und Chimen geht hervor, dass er Berlin im Juni 1984 zu dessen fünfundsiebzigstem Geburtstag einen der Briefe schenkte. Turgenjew, erklärte Chimen, sei ein Mann gewesen, „den wir beide bewundern und über den Sie so brillante Zeilen verfasst haben“.
Ein signiertes Handschreiben des Zionistenführers Chaim Weizmann, der Israels erster Staatspräsident werden sollte, an den in Liverpool ansässigen Rabbi Isaiah Raffalovich, datiert vom 21. Juni 1917, fand sich ebenfalls in dem Sekretär.
(Fortsetzung folgt)