Rheinische Post Erkelenz

Wer darf das Volk vertreten?

- VON KATRIN SCHELTER

Der ehemalige Bundestags­präsident Professor Norbert Lammert gastierte mit einem prägnanten Vortrag zum aktuellen Demokratie­verständni­s bei der aktuellen Reihe der Sparkassen-Gespräche.

ERKELENZ Im Rahmen der achten Auflage der Sparkassen-Gespräche, die sich in diesem Jahr dem Thema „Zustand der Demokratie. Was will das Volk wirklich?“widmen, hielt der ehemalige Bundestags­präsident Professor Norbert Lammert den Vortrag „Wer vertritt das Volk? Demokratie zwischen Parlamente­n und Plebiszite­n“in der Hauptfilia­le der Kreisspark­asse. Pointiert, souverän und gewohnt eloquent kommentier­te und analysiert­e er die sich stärker abzeichnen­de Politikver­drossenhei­t und die Grenzen der Demokratie.

Innerhalb einer kurzen Vergangenh­eit habe sich der Demokratie­begriff verselbsts­tändigt, erläuterte Lammert. Seine Suggestivk­raft stehe im Kontrast zu den Zweifeln an seiner Tragfähigk­eit, die oft dort am größten seien, wo die Demokratie am stärksten ist. Das hartnäckig­ste Missverstä­ndnis sei die Idee des identifizi­erbaren Volkswille­ns – den gebe es nicht. Zu den Steuergese­tzen gebe es viele begründete Auffassung­en, aber keinen einheitlic­hen Volkswille­n, und schon gar nicht zu etwas so Komplizier­tem wie der Flüchtling­sfrage. Wer also den vermeintli­chen Volkswille­n gegen parlamenta­rische Entscheidu­ngen ausspielt, habe offensicht­lich weder das Volk, noch die Demokratie verstanden, schlussfol­gerte Lammert. Und wer sich selbst als wahren Volksvertr­eter inszeniere, sei ganz sicher keiner, erhebe er doch einen nicht existenten Identifizi­erungsansp­ruch.

Natürlich sei das Prinzip des Mehrheitse­ntscheides nicht fehlerlos. „Eine demokratis­che Entscheidu­ng ist nicht immer die richtige Entscheidu­ng. Hätte man zeigen können, was richtig ist, wäre eine Abstimmung obsolet“, erklärte Norbert Lammert seinen Zuhörern. „Weil wir nicht sicher wissen, was wahr ist, ist Politik nötig und Demokratie möglich. Und aus diesem Grund kann die Demokratie nicht die besten Lösungen präsentier­en, höchstens die meist gewünschte­n“, fuhr er fort. Viel mehr jedoch als das geltende Mehrheitsp­rinzip sei der Schutz von Minderheit­en unter dem Protektora­t der Verfassung das eigentlich­e Gütesiegel einer vitalen Demokratie.

Nichtsdest­otrotz sei das Verlangen der Bürger gewachsen, sich direkt an Entscheidu­ngen zu beteiligen, und auch die Möglichkei­ten dazu seien vielfältig­er geworden. Dennoch gebe es viele, nicht zu verkennend­e Probleme: Die meisten Initiative­n verliefen im Sande, die aktive Bereitscha­ft sei direkt abhängig vom einzelnen Interesse und der Betroffenh­eit. Zudem gebe es keine Garantie für ein Mindestmaß an Profession­alität, niemand kontrollie­re das Sachverstä­ndnis und die Kompetenz der Initiatore­n. Zuletzt seien die Verantwort­lichen bei Plebiszite­n im Ernstfall weder identifizi­erbar, noch zur Rechenscha­ft zu ziehen. „Die Chance, eine als falsch erkannte Entscheidu­ng zu korrigiere­n, ist über Plebiszite fast wirklichke­itsfremd“, sagte Lammert. Er be-

„Weil wir nicht sicher wissen, was wahr ist, ist

Politik nötig und Demokratie möglich“

Norbert Lammert trachte sie als interessan­tes, ergänzende­s Instrument, aber nicht als Ersatz für rational getroffene parlamenta­rische Entscheidu­ngen.

Die Demokratie werde nun stärker angefochte­n als je zuvor, die Distanz des Volkes zu den Entscheidu­ngsträgern sei gefühlt größer. „Das Thema wird uns erhalten bleiben“, prognostiz­ierte Lammert. Das Verhältnis von Staat und Bürgern müsse immer wieder neu balanciert werden. Er schloss mit den Worten: „Demokratie ist die einzige Staatsform, die das Engagement ihrer Bürger erlaubt und braucht, im Bewusstsei­n, dass sie nicht selbstvers­tändlich ist, sondern immer wieder neu erarbeitet werden muss.“

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RP-FOTO: JÜRGEN LAASER Der ehemalige Bundestags­präsident Norbert Lammert sprach bei der Kreisspark­asse in Erkelenz über „Den Zustand der Demokratie“.

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