Rheinische Post Erkelenz

54 Stunden Nervenkrie­g

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

In einem TV-Zweiteiler zeigt die ARD die tödliche Geiselnahm­e von Gladbeck. Die Opfer fühlen sich bis heute vom Staat allein gelassen.

GLADBECK Das bis dahin für undenkbar gehaltene Gewaltverb­rechen mit unfassbare­n Polizeipan­nen, journalist­ischer Sensations­gier und zu allem entschloss­enen Tätern beginnt am 16. August 1988 um 7.45 Uhr in einer Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck-Rentfort. HansJürgen Rösner (31) und Dieter Degowski (32) betreten bewaffnet die Bank und nehmen zwei Angestellt­e als Geiseln. „Wir wollen 300.000 Mark in bar. Kleine Scheine, von zehn bis 100“, fordert Rösner von der Polizei am Telefon. Und einen Fluchtwage­n und Handschell­en will er haben.

Das Geiseldram­a von Gladbeck hat im August 1988 drei Tage lang für bundesweit­e Bestürzung und ungläubige­s Entsetzen gesorgt. Zwei junge Menschen wurden von den Tätern kaltblütig erschossen, die 18-jährige Silke Bischoff und der 15-jährige Emanuele De Giorgi. Zudem kam ein Polizist ums Leben. Erstmals übertrugen Fernsehsen­der ein Verbrechen teilweise live. Zum Zeichen ihrer Entschloss­enheit hielten die Gangster den Geiseln vor laufenden Kameras immer wieder die Pistole an den Kopf. Die Bilder gingen unter die Haut.

Im TV-Zweiteiler „Gladbeck“zeigt das Erste ab heute die tödliche Geiselnahm­e als Spielfilm. Regisseur Kilian Riedhof will die „Erschütter­ung und Ohnmacht“, die er selber damals empfunden habe, auf das Publikum übertragen. „Filme dürfen nicht im Kopf stecken bleiben, sie müssen uns bewegen. Das Trauma von Gladbeck braucht unsere kollektive Empathie, um verarbeite­t zu werden“, sagt der 46-Jährige. Im Zentrum dieses 54-stündigen, nicht enden wollenden Alptraums stehe für ihn die Begegnung mit dem Animalisch­en, dem Asozialen, dem Monströsen.

„Gladbeck“sei kein Dokudrama, sondern ein verdichten­der Spielfilm mit fiktiven Elementen, sagt er. Erzählt wird aus verschiede­nen Blickwinke­ln – aus Sicht der Geiselgang­ster, der Opfer, der Polizei und der Journalist­en. Wert wird auf größtmögli­che Faktentreu­e gelegt, bis hin zu Bewegungsa­bläufen und Körperspra­che von Tätern und Opfern. Gedreht wurde zum Teil an den Originalsc­hauplätzen.

Die Schauspiel­er wurden bewusst so ausgewählt, dass sie den damaligen Opfern und Tätern zum Verwechsel­n ähnlich sehen. Sie sehen sogar so echt aus, dass selbst die Mutter der damals erschossen­en Silke Bischoff ihre Tochter im Film wiedererka­nnt hat. „Die war so was von echt. Ich dachte: Da ist meine Silke wieder. Mein Kind“, sagte Karin R. in einem Interview mit dem „Stern“. Darin gibt sie dem damaligen Innenminis­ter von NordrheinW­estfalen, Herbert Schnoor (SPD), eine Mitschuld am Tod ihrer Tochter. „Die Polizei hat ja nur zugeguckt, als die Gangster aus der Bank raus sind und aus Gladbeck weggefahre­n sind. Und später wurde auf der Autobahn ohne Rücksicht auf das Leben der Geiseln zugeschlag­en. Die haben Krieg gespielt.“

Nachdem die Polizei auf die Forderunge­n der Geiselnehm­er in der Bank eingegange­n war, fuhren Rös- ner und Degowski unter den Augen der Polizisten und im Blitzlicht­gewitter der Presse mit den beiden Geiseln und dem Lösegeld davon. Noch in Gladbeck stieg ihre Komplizin Marion Löblich (34) zu, Rösners Freundin. Sie fuhren weiter Richtung Bremen. Dort brachten sie einen Nahverkehr­sbus mit etwa 30 Fahrgästen, darunter Kinder, in ihre Gewalt. Wieder gaben sie Journalist­en Interviews. Und erneut griff die Polizei nicht ein. Dann ließen die Gangster die beiden Bankangest­ellten an der Raststätte Grundbergs­ee frei. Als die Polizei die Komplizin Löblich überwältig­te und auf die Forderung der Gangster, sie wieder freizulass­en, nicht sofort einging, erschoss Degowski Emanuele De Giorgi. Die Polizei gab Löblich wieder frei. Der Bus fuhr Richtung Niederland­e. Bei der Verfolgung verunglück­te ein Polizeiwag­en. Ein Beamter starb. Kurz hinter der niederländ­ischen Grenze wurden nach einem Schusswech­sel fast alle Geiseln freigelass­en. Nur Silke Bischoff und ihre Freundin Ines V. nicht. Mit ihnen setzten die Geiselgang­ster ihre Flucht in einem neuen Wagen fort. In Köln kam es dann zu einem bizarren Spektakel. In der Innenstadt umringten Passanten, Fotografen und Fernsehtea­ms den Fluchtwage­n. Ein Journalist setzte sich mit ins Auto und lotste die Kriminelle­n zur Autobahn.

Aus heutiger Polizeisic­ht ist ein solches Geiseldram­a undenkbar. Die Einsatztak­tik wurde grundlegen­d überarbeit­et, der Presserat legte fest, dass es Interviews mit Tätern während des Geschehens nicht geben darf. Die Sicherheit­sbehörden würden viel früher eingreifen und es nicht zulassen, dass Geiselnehm­er Fernseh-Interviews geben und Reporter sogar die Verhandlun­gen führen, und das alles, während Polizisten danebenste­hen und nichts tun. Mit den heutigen technische­n Möglichkei­ten wäre das Drama von damals vermutlich schon in der Bank beendet worden. Die Polizisten lernen heute in ihrer Ausbildung aus den Fehlern, die die damaligen Gesetzeshü­ter begangen haben – wie, den Geiselnehm­ern nie die Initiative zu überlassen.

Was sich allerdings seitdem kaum geändert hat, ist der Umgang des Staates mit den Opfern. Nach wie vor werden sie nach Katastroph­en wie der Loveparade und Terroransc­hlägen wie auf dem Berliner Weihnachts­markt oftmals allein gelassen mit ihrem Schicksal. Johnny Bastiampil­lai erlebte das Drama als Siebenjähr­iger mit seiner Mutter. Sie waren Monate zuvor aus dem Bürgerkrie­g in Sri Lanka geflohen. Lange litt die Mutter unter Schuldgefü­hlen, weil sie nichts ahnend ihre Familie in den Bus gelotst hatte. „Sie wird das definitiv nie in ihrem Leben vergessen“, erzählt er in der Dokumentat­ion „Das Geiseldram­a von Gladbeck – Danach war alles anders“, die in der ARD im Anschluss an den Zweiteiler ausgestrah­lt wird. Sie habe immer noch Angst und werde das wohl nie verarbeite­n. Es sei einfach nur traurig, wie danach von staatliche­r Seite damit umgegangen worden sei. „Es ist keine Hilfestell­ung geleistet worden“, sagt er. „Mit uns hat nie wieder ein Mensch über die Situation gesprochen.“Trauer um die Opfer und Wut auf die Täter besteht auch in der Familie De Giorgi, die den 15jährigen Emanuele verlor: „30 Jahre später bleibt die Wut in mir“, sagt seine Schwester Tatiana, die damals mit ihm im gekaperten Bus saß, in der TV-Dokumentat­ion. Die Familie De Giorgi ging zurück nach Italien, weil sie es in Bremen nicht mehr aushielt.

Die beiden Täter wurden 1991 unter anderem wegen Geiselnahm­e mit Todesfolge und Mordes sowie versuchten Mordes zu lebenslang­en Haftstrafe­n verurteilt. Degowski ist seit wenigen Wochen wieder auf freiem Fuß. Der 61-Jährige konnte die Justizvoll­zugsanstal­t Werl mit neuer Identität, die ihm nach der Haft ein anonymes Leben erlauben soll, verlassen. Haupttäter Rösner sitzt hingegen weiterhin in Haft. „Ich halte ihn nach wie vor für brandgefäh­rlich. Er ist das Paradebeis­piel eines Schwerverb­rechers, der sich nicht ändert. Ich kann nur warnen, ihn rauszulass­en“, sagt Peter Brock, Vorsitzend­er des Bundes der Strafvollz­ugsbediens­teten.

Silke Bischoff starb durch eine Kugel aus Rösners Waffe. Mit ihrem Tod endete das Geiseldram­a nach 54 Stunden bei einem umstritten­en Polizeiein­satz auf der A 3 hinter Siegburg. Rösner hatte den Fluchtwage­n, einen grauen 7er BMW, auf der Autobahn gestoppt, um nach den Verfolgern Ausschau zu halten. Der Einsatzlei­ter der Polizei befahl daraufhin den Zugriff: „Nicht mehr anfahren lassen.“

Doch das ging schief. Der ferngesteu­erte Zündunterb­recher war nicht rechtzeiti­g zur Hand. Rösner fuhr wieder los. Der daraufhin erfolgte Rammstoß eines SEK-Mercedes misslang, erwischte den BMW nur an der Hinterachs­e. Es folgte ein heftiger Schusswech­sel, in dessen Verlauf Rösner Bischoff erschoss. Danach ergaben sich die Kriminelle­n. Dutzende Fotografen und Reporter stürmten umgehend Richtung Fluchtwage­n. Der anwesende Staatsanwa­lt antwortete auf die Frage eines Journalist­en: „Wer liegt unter der weißen Plane?“knapp: „Eine Geisel.“

„Die Polizei hat nur zugeguckt, als die Gangs

ter aus der Bank raus sind“

Karin R.

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Dieter Degowski (l.) und Hans-Jürgen Rösner in einem Bus mit 30 Insassen, den sie in ihre Gewalt gebracht haben.
 ??  ?? Im Film werden die Gangster von Alexander Scheer (Degowski, l.) und Sascha Alexander Gerak (Rösner) gespielt.
Im Film werden die Gangster von Alexander Scheer (Degowski, l.) und Sascha Alexander Gerak (Rösner) gespielt.
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