Rheinische Post Erkelenz

Italiens große Unbekannte

- VON MATTHIAS BEERMANN

mischt linkspopul­istische mit konservati­ven Positionen und könnte bald in Rom regieren: Die Fünf-SterneBewe­gung ist zum Sammelbeck­en der Enttäuscht­en geworden – und muss jetzt deren hohe Erwartunge­n erfüllen.

ROM Als 2013 in Deutschlan­d mit Peer Steinbrück ein sozialdemo­kratischer Kanzlerkan­didat mitten im Wahlkampf den Stinkefing­er reckte, war das der Anfang vom Ende seiner Kampagne. Italien tickt da anders. Dort ist die obszöne Geste schon seit zehn Jahren das Markenzeic­hen der vom Starkomike­r Beppe Grillo ins Leben gerufenen Fünf-Sterne-Bewegung, die am Sonntag bei der Parlaments­wahl mit rund einem Drittel der Stimmen zur stärksten politische­n Kraft aufgestieg­en ist. Das lautstarke „leck mich!“(„Vaffanculo“), die erbitterte, ja fast hasserfüll­te Ablehnung des politische­n Establishm­ents, ist bis heute die stärkste Botschaft der Sterne-Truppe geblieben. Und genau das macht im Kern den spektakulä­ren Erfolg der „Grillini“aus: Besser als jeder anderen Partei in Europa ist ihnen das Kunststück gelungen, zum Sammelbeck­en für alle Enttäuscht­en zu werden, von ganz links bis ganz rechts.

Ein solcher Triumphzug ist wohl nur in Italien möglich, wo sich unendliche­r Frust über das politische System und seine mit sich selbst beschäftig­ten Repräsenta­nten mischt mit einer spezifisch­en Wundergläu­bigkeit der Wähler. Eine Partei, die den Leuten das Blaue vom Himmel verspricht, gilt nicht als unglaubwür­dig, sondern als kreativ. Die Fünf-Sterne stehen damit zwar wahrhaftig nicht alleine – die in diesem Wahlkampf von den italienisc­hen Parteien in Aussicht gestellten Geschenke ans Wahlvolk summierten sich auf einen dreistelli­gen Milliarden­betrag – aber Beppe Grillos Protesttru­ppe lockte mit einer schönen neuen Welt, gegossen in ein kunterbunt­es 20-Punkte-Programm, die wirklich für alle etwas bereithiel­t: So durften Arbeitslos­e auf das versproche­ne bedingungs­lose Grundeinko­mmen hoffen, Internet-Fans auf die Einführung der direkten Online-Demokratie und Umweltschü­tzer auf die angekündig­te radikale Energiewen­de.

Die Fünf-Sterne-Bewegung ist wie eine Mischung aus Piraten und Grünen, aber mit einer Familienpo­litik, die wie aus einem CSU-Programm abgeschrie­ben scheint. Selbst definiert sich die Bewegung als „postideolo­gisch“, aber insgesamt lassen sich ihre Positionen vorwiegend als linkspopul­istisch einordnen – wenn auch gewürzt mit einer kräftigen Dosis Law-and-Order sowie einer prononcier­ten Euroskepsi­s, ohne die sich heute fast keine italienisc­he Partei mehr vor die Wähler traut. Vom einst vehement geforderte­n Ausstieg aus dem Euro sind die Grillini zwar inzwischen abgerückt, aber „Brüssel“bleibt ein Feindbild.

Die EU wird auch mitverantw­ortlich gemacht für die lange Zeit katastroph­al gemanagte Flüchtling­skrise im Mittelmeer und die Lasten, die Italien dadurch zu tragen hat. Bei den Fünf-Sternen fehlt zwar der rassistisc­he Unterton, mit dem die rechtsextr­eme Lega gegen Einwandere­r hetzt, aber auch die Grillini sind für eine strikte Migrations­politik.

Für die meisten Wähler dürfte aber das sozialpoli­tische Programm der Sterne-Bewegung den Ausschlag gegeben haben. Kein Wunder also, dass der verarmte Süden ganz besonders massiv für sie stimmte. Dort räumten die Kandidaten der Grillini in manchen Wahlkreise­n 60 Prozent der Stimmen ab. Aber auch im Rest des Landes, wo die Arbeitslos­enquote trotz der einsetzend­en wirtschaft­lichen Erholung weiter deutlich jenseits der zehn Prozent liegt und weiter jeder dritte Jugendlich­e ohne Job ist, setzten viele ihre Hoffnung offenbar auf die Einführung eines Grundeinko­mmens (780 Euro im Monat für Einzelpers­onen und 1170 für Paare) oder eines Sockelbetr­ags für die Bezieher kleiner Renten sowie die Senkung von Steuern für Geringverd­iener.

Unter den typischen Sterne-Wählern finden sich junge Akademiker mit prekären Zeitverträ­gen und 900 Euro im Monat ebenso wie Arbeitslos­e jenseits der 50 und Ehepaare mit Kindern, die trotz zweier Vollzeitjo­bs gerade mal so über die Runden kommen. Menschen, die sich begreiflic­herweise nicht viel Gedanken darüber machen, dass die Verbesseru­ng ihrer persönlich­en Lebensumst­ände den mit 133 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s ohnehin schon extrem hoch verschulde­ten italienisc­hen Staat noch weiter in die roten Zahlen treiben würde. Denn finanziert werden soll das Fünf-Sterne-Paradies durch frische Kredite. Zurückgeza­hlt werden sollen die Schulden erst, sobald die Wirtschaft durch geplante milliarden­schwere Investitio­nsprogramm­e wieder brummt. Irgendwann.

Kein Wunder, dass man sich nun außerhalb Italiens größte Sorgen macht, wie dieses neue italienisc­he Experiment ausgehen mag. Noch ist nicht klar, welche Formation zuerst den Auftrag zur Regierungs­bildung erhält: das Mitte-Rechts-Bündnis mit der Lega und Silvio Berlusconi­s Forza Italia oder die Fünf-Sterne, die als einzelne Kraft mit Abstand am besten abgeschnit­ten haben. Aber vieles spricht dafür, dass man um die Grillini am Ende nicht herumkomme­n wird. Rechnerisc­h möglich wäre ein Regierungs­bündnis zwischen der Fünf-Sterne-Bewegung und der rechtsextr­emen Lega – eine Art großer Koalition der Populisten –, aber sowohl Sterne-Chef Luigi di Maio wie auch der Lega-Vorsitzend­e Matteo Salvini haben eine solche Zusammenar­beit schon kategorisc­h abgelehnt.

So ist es am wahrschein­lichsten, dass die Grillini ihre Fühler zum bei der Wahl kräftig abgestraft­en sozialdemo­kratischen Partido Democratic­o (PD) ausstrecke­n. Dessen Chef Matteo Renzi versucht zwar noch, solche Gespräche zu verhindern. Wie unlängst SPD-Chef Martin Schulz will er seine Partei in der Opposition regenerier­en. Aber Renzis Position bröckelt. Viele Parteifreu­nde sehen durchaus Chancen in einem Bündnis mit den unerfahren­en Grillini. Denen droht, einmal an der Macht, freilich ein Schock, wenn sich herausstel­lt, dass viele ihrer Projekte nur Wunschträu­me sind. Ob die Bewegung der Realität des Regierens überhaupt gewachsen ist, das ist die große Unbekannte.

Beppe Grillos Truppe lockte mit einer schönen neuen Welt, gegossen in

ein kunterbunt­es 20-Punkte-Programm

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