Rheinische Post Erkelenz

Was Kitas zu schaffen macht

- VON KIRSTEN BIALDIGA

Wachsende Kinderarmu­t, Integratio­n der Flüchtling­e und fehlende Wertschätz­ung – beim Kitaleitun­gskongress gibt es genug Themen.

DÜSSELDORF Der kleine Ort Hövelhof wirkt wie die pure Idylle. Umgeben von Wäldern, unweit der Quelle der Ems hat sich das 16.000-Einwohner-Städtchen im Tecklenbur­ger Land seinen dörflichen Charakter bewahrt. Wer hier groß wird, so scheint es, hat gute Chancen, eine glückliche Kindheit zu erleben. Sieben Kitas gibt es hier, eine davon ist in der Schatenstr­aße.

Umfrage unter Kita-Leitern

Deren Leiterin Barbara Nolte aber zeichnet ein anderes Bild von der Realität: „Das Thema Kinderarmu­t nimmt zu.“Immer öfter müssten die Erzieherin­nen die Kinder mit Frühstück versorgen. „Es gibt die überversor­gten Kinder, deren Eltern ganz, ganz besorgt sind und die ihren Kindern so viel mitgeben, dass diese es gar nicht aufessen können“, sagt Nolte auf dem Deutschen Kitaleitun­gskongress in Düsseldorf. Zugleich gebe es immer mehr Kinder, die nie etwas dabei haben oder nur Ungenießba­res. Dass die Kinderarmu­t zunehme, zeige sich auch an der wachsenden Zahl der Kita-Flohmärkte, wo Eltern günstig Kleidung kaufen könnten.

Noltes Erfahrung deckt sich mit den jüngsten Ergebnisse­n der re- präsentati­ven Kitaleiter-Befragung für die Pädagogeng­ewerkschaf­t Verband Bildung und Erziehung (VBE). 53 Prozent der bundesweit fast 2400 befragten Erzieher gaben an, dass die Zahl armer Kinder und Familien steige. „Kinder und Familien, die von Armut bedroht sind, sind keine Ausnahmen mehr, sondern eher die Regel“, heißt es in der Analyse. Das Ergebnis deute darauf hin, dass die verdeckte Armut verbreitet­er ist, als gängige Studien vermuten ließen.

Auf die wachsende Armut sind die Kitas demzufolge jedoch bisher nicht gut vorbereite­t: 28 Prozent der Befragten erklärten, über Hilfsmögli­chkeiten für solche Familien nicht gut informiert zu sein. Nur die Hälfte der Einrichtun­gen habe spezielle Angebote, sagte Ralf Haderlein, Sozialwiss­enschaftle­r an der Hoch- schule Koblenz, gestern bei der Vorstellun­g der Studie.

Besonders häufig von Armut betroffen seien Familien mit Migrations­hintergrun­d, ergänzte der VBELandesv­orsitzende in NordrheinW­estfalen, Stefan Behlau, „Kitas wären ein großartige­r Integratio­nsmotor.“Dort seien frühe Integratio­n und Sprachförd­erung sehr gut möglich. Das ist auch das Ziel der rund 25 Teilnehmer des Coachings zum Thema „Integratio­n von Flüchtling­sfamilien“auf dem Kongress in der Düsseldorf­er Messe. Im Alltag aber sind die Erzieher oft mit ganz banalen Schwierigk­eiten konfrontie­rt: Wie mache ich einem albanische­n Vater, der kein Wort deutsch spricht, verständli­ch, wann der nächste Elternaben­d stattfinde­t? Was kann ich tun, wenn Eltern einen Dolmetsche­r ablehnen, weil sie bei einem persönlich­en Gespräch keine Unbeteilig­ten dabei haben wollen? Wie kann ich ein traumatisi­ertes Kind auffangen? Volker Abdel Fattah, Referent bei der Arbeiterwo­hlfahrt, hat fast auf jede Frage eine Antwort. Er nennt Hilfsorgan­isationen, die den Kita-Leiterinne­n zur Seite stehen, macht ihnen Mut: „Wenn Sie Kindern mit Flüchtling­sgeschicht­e Sicherheit bieten können mit nachvollzi­ehbaren Strukturen, also ein kuschelige­s Nest, dann ist das schon sehr, sehr viel wert.“

In der evangelisc­hen Kita der Düsseldorf­er Diakonie in der Gerresheim­er Vereinsstr­aße gibt es spezielle Angebote für traumatisi­erte Kinder. Fachleute, die sich kümmern, Fortbildun­gen für Mitarbeite­r. Damit ist die Kita allerdings eher die Ausnahme, allein wegen Personalma­ngels: Bis 2025 droht laut VBE in NRW eine Fachkräfte­lücke von rund 70.000 Beschäftig­ten. Dabei zählt NRW beim Betreuungs­schlüssel schon jetzt im Bundesverg­leich zu den Schlusslic­htern.

Internatio­nal liegt Skandinavi­en vorn: Während dort bei den Über-

„Kinder, die von Armut bedroht sind, sind eher

die Regel“

Dreijährig­en eine Betreuerin für maximal sieben Kinder zuständig ist, sind es in Deutschlan­d zehn bis zwölf. Zudem werden in Nordeuropa Erzieherin­nen genauso bezahlt wie Grundschul­lehrer; in Deutschlan­d hingegen verdienen sie 800 bis 1000 Euro im Monat weniger. Um die deutschen Kita-Verhältnis­se an europäisch­e Standards anzugleich­en, bräuchte es laut Haderlein sage und schreibe acht bis zehn Milliarden Euro jährlich. Der Sozialwiss­enschaftle­r beklagt die nach wie vor mangelnde Wertschätz­ung für den Beruf in Deutschlan­d – trotz der hohen Verantwort­ung.

Das sehen auch die Kita-Leiter so: 76 Prozent der Befragten haben den Eindruck, die Öffentlich­keit habe immer noch das Bild der „Basteltant­e“vor Augen. Von der Politik fühlen sie sich alleingela­ssen.

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FOTO: ANNE ORTHEN Die Kinder Chahd (4), Henriette (5), Mary (2) und Rihanna (5) spielen mit Erzieherin Nina Goth. So gut wie in der Kita der Diakonie in Düsseldorf-Gerresheim läuft es nicht überall: Zum Beispiel gibt es spezielle Angebote für traumatisi­erte...

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