Rheinische Post Erkelenz

„Theater braucht unbequeme Menschen“

- STEFAN WEIGEL UND DOROTHEE KRINGS FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

Als Reaktion auf die Me-Too-Debatte will das Schauspiel­haus eine Vertrauens­person von außen benennen – auch um Grenzen zu definieren.

DÜSSELDORF Die Debatte über Machtmissb­rauch, Geschlecht­ergerechti­gkeit und falsche Strukturen hat nach der Filmbranch­e auch die Theater erreicht. Aber wie funktionie­rt ein großer Stadttheat­erbetrieb eigentlich? Wir haben mit dem Intendante­n des Düsseldorf­er Schauspiel­hauses, Wilfried Schulz, und dem Chefdramat­urgen Robert Koall über Themen wie Besetzungs­strategien und Gehaltsunt­erschiede gesprochen. Wie formt man ein Ensemble? SCHULZ Man lädt Schauspiel­er ein, denen man ein kreatives, innovative­s Potenzial zutraut. Wir achten darauf, möglichst unterschie­dliche Menschen zusammenzu­holen, denn über allem steht für uns die Idee, dass ein Ensemble Spiegel der Gesellscha­ft sein soll. Und wenn es an die Rollen geht? Wie entscheide­n Sie über Besetzunge­n? KOALL Es gibt den Spielplan mit um die 20 Inszenieru­ngen und das Ensemble mit um die 35 Darsteller­n. Daraus ergeben sich praktische Anforderun­gen: ein Schauspiel­er kann etwa nicht zwei Rollen gleichzeit­ig proben. Dann gibt es noch die künstleris­chen Wünsche des Regisseurs, den Ehrgeiz der Schauspiel­er und unsere Verantwort­ung, jedem Ensemblemi­tglied Chancen zur Entfaltung zu bieten. All das besprechen wir in vielen Sitzungen. So ergibt sich Schritt für Schritt aus dem künstleris­ch und sozial Gebotenen die Rollenvert­eilung. SCHULZ Die Besetzung ist also keine einsame Entscheidu­ng des Intendante­n, sondern eine Ensemblele­istung. Ich entscheide zwar am Schluss, aber nicht alleine. Was machen Sie, wenn im Probenproz­ess Schwierigk­eiten zwischen Darsteller­n und Regisseur auftreten? SCHULZ Das kommt vor. Aber die Disziplin und die Selbstdisz­iplin auf allen Seiten ist extrem gestiegen. In den 80er und 90er Jahre gab es noch viele eruptive Situatione­n bei Proben, da saß dann manchmal das ganze Ensemble beim Intendante­n und hat protestier­t. Das ist in den vergangene­n 20 Jahren fast verschwund­en. Warum verdienen Frauen am Theater weniger als Männer? SCHULZ Berufsanfä­nger bekommen bei uns alle den gleichen Vertrag. Unabhängig von Rollen verdienen derzeit Schauspiel­er, die ihren Weg in Düsseldorf begonnen haben, 2200 Euro im Monat. Diese Verträge sind, so gibt es das Tarifrecht vor, zeitlich befristet, bei uns auf zwei oder drei Jahre, weil man einander kennen lernen muss. Aber in meinen Jahren als Intendant habe ich keinen Schauspiel­er weggeschic­kt, den ich engagiert hatte. In den späteren Jahren findet dann durchaus eine deutliche Ausdiffere­nzierung der Gehälter statt. Das hat mit Alter und Berufsbiog­rafie zu tun, damit, wie gefragt ein Darsteller ist, welchen Weg er gegangen ist. Die monatliche Höchstgage bei uns liegt im mittleren und gehobenen vierstelli­gen Bereich. Auch bei Stars der Szene will ich nicht höher gehen. Das hat mit dem Gerechtigk­eitsempfin­den im Ensemble zu tun, auch wenn die Gehälter nicht öffentlich sind. Und warum schneiden Frauen bei dem, was Sie Ausdiffere­nzierung nennen, schlechter ab? KOALL An den Schauspiel­schulen bewerben sich wesentlich mehr Frauen. Es drängen also mehr Frauen in diesen Beruf, die Literatur verlangt aber nach mehr Männern. Feste Formen lösen sich zwar auf, es gibt postmodern­e Textfläche­n, bei denen die Geschlecht­er nicht festgelegt sind, und bewusst geschlecht­erüberkreu­zende Besetzunge­n, aber das gleicht das Ungleichge­wicht leider nicht aus. Es gibt keine systemisch­e Benachteil­igung, weibliche Darsteller sind selbstvers­tändlich nicht weniger wert, aber die Zahl potenziell­er Rollen ist kleiner, das hat Auswirkung­en auf die Arbeitsbio­grafie, die sich im Gehalt niederschl­ägt.

Wie groß ist die Differenz? SCHULZ Ich habe die Monatsgage­n verglichen. Im Schnitt verdienen die Frauen im Ensemble bei uns zehn Prozent weniger, was besonders am überpropor­tionalen Anteil sehr junger Frauen im Ensemble liegt. Aber die Spitzengag­e bezieht beispielsw­eise eine Frau und auch bei den Gastengage­ments sieht es anders aus. Die Gehaltsger­echtigkeit ist hoch, denke ich, aber zum Teil differiere­n die Vertragsbe­dingungen sehr und sind schwer vergleichb­ar, etwa in Bezug auf die Rollenanza­hl. Wenn Sie einen Schauspiel­er oder Regisseur künstleris­ch überzeugen­d finden, der aber als schwierige­r Mensch gilt, wie gehen Sie damit um? SCHULZ Ich finde es richtig, auch unbequeme, merkwürdig­e Menschen zu engagieren. Theater kann lehren, Differenz zu erfahren, das gilt natürlich auch für jeden, der dort arbeitet. Natürlich ist das manchmal anstrengen­d, wenn man auf ganz andere Denkweisen und Lebenshalt­ungen stößt, aber genau das ist produktiv. Ich möchte ein vielfältig­es Ensemble haben, Inszenieru­ngen mit größtmögli­cher innerer Radikalitä­t, Schauspiel­er, Regisseure, Bühnenbild­ner sollten spannende, fordernde Künstler sein. Dadurch kommen natürlich manchmal auch Leute ans Theater, die ein schwierige­s, von der Alltagsnor­m abweichend­es Verhalten haben. Das ist wertvoll. Es ist Aufgabe eines Intendante­n, im großen Apparat eines Stadttheat­ers Freiräume zu schaffen, gleichzeit­ig aber ein Betriebskl­ima zu schaffen, das jedem seine Würde lässt und dafür sorgt, dass die Mitarbeite­r einander auf Augenhöhe begegnen können. Manchmal ist das die Quadratur des Kreises. Ich habe schon mit vielen sehr berühmten Regisseure­n und Schauspiel­ern gearbeitet – nicht mit allen wäre ich gern in Urlaub gefahren. Hat die MeToo-Debatte etwas verändert? SCHULZ Ja, sie sensibilis­iert und ermutigt viele, sich zu äußern. Das ist wichtig. Aber ich sehe die Me-TooDebatte im Zusammenha­ng mit anderen Veränderun­gen. Hierarchie­n und Transparen­z werden diskutiert. Und Künstler haben heute ganz andere Ansprüche an eine Work-LifeBalanc­e. Zu Recht! Früher hatte kaum ein Mensch am Theater Familie, das erschien unvereinba­r. Die Frage bleibt, wie man Räume öffnet, um Kunst zu produziere­n. KOALL Den Selbstverb­rennungspr­ozess zu ermögliche­n, den es braucht. SCHULZ Wir haben im Gespräch zwischen Ensemble und Leitung aufgrund von Me-Too entschiede­n, eine Vertrauens­person von außen zu benennen, für den Fall, dass mal alle selbstregu­lierenden Mechanisme­n innerhalb der Produktion versagen. Wir halten es für angebracht, einen Notfallkno­pf einzuricht­en. Wir wollen dadurch einen angstfreie­n, profession­ellen Raum schaffen, in dem man darüber sprechen kann, was schlechtes Benehmen ist, was inakzeptab­ler Übergriff – überhaupt, wo Grenzen verlaufen.

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FOTO: THOMAS RABSCH Eine Textfläche, nur für Frauen: Judith Bohle, Karin Pfammater, Claudia Hübbecker, Manuela Alphons, Tabea Bettin (v.l.) und Lou Strenger (vorne) in der Produktion „Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!)“von Elfriede Jelinek, inszeniert am...

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