Rheinische Post Erkelenz

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Mendelssoh­n glaubte, die Existenz Gottes lasse sich rein rational beweisen; allerdings begnügte er sich damit, die göttliche Offenbarun­g der Zehn Gebote durch Moses am Berg Sinai unerklärt zu lassen. In Mendelssoh­ns Welt ließ sich die Realität Gottes also ähnlich wie bei einem mathematis­chen Beweis herleiten, während Gottes Gesetz, sein Verhaltens­codex für den Alltag, nicht hinterfrag­t werden durfte. Ob man dies einfach glaubte oder nicht, oblag dem Gewissen des Einzelnen. Wie die anderen Philosophe­n der Aufklärung war er der Meinung, dass der Staat keine Form religiöser Orthodoxie erzwingen solle. Die Verfechter der Haskala bekannten sich mithin zu der großen liberalen politische­n Version eines weltlichen Staates, die sich in Westeuropa und Amerika in den Jahrzehnte­n um die Französisc­he Revolution entwickelt­e. Dieser Oberbegrif­f bot genug Raum für Menschen aller Glaubensri­chtungen oder auch für solche ohne jeden Glauben (obwohl Mendelssoh­n selbst scharfe Kritik an Atheisten übte). Diese Vision verfeinert­en sie zu einer anspruchsv­ollen Botschaft, die sich ausdrückli­ch an die jüdische Bevölkerun­g Europas richtete.

Die Frauen und Männer des 18. und 19. Jahrhunder­ts, die sich aufgrund von Mendelssoh­ns Schriften für die Haskala einsetzten, begrüßten die Aussicht auf bürgerlich­e Emanzipati­on, das heißt auf uneingesch­ränkte politische und wirtschaft­liche Rechte. Sie gaben sich jedoch nicht mit dem Liberalism­us zufrieden. Je mehr sie sich an den politische­n Bewegungen Europas beteiligte­n, desto stärker radikalisi­erten sie sich.

Gegen Ende des 19. Jahrhunder­ts fühlte sich eine große Zahl junger Juden von einer stärker sozialisti­schen Sichtweise angezogen. Das war ihre Reaktion auf regierungs­gestützte Pogrome in Russland und auf brutale Unterdrück­ungsmaßnah­men gegen politische Aktivisten überall in Europa. Diese Entwicklun­g war mit der Welle von Revolution­en, die Europa 1848 ergriff, nach Russland geschwappt und hatte sich dort seit den 1860er Jahren beschleuni­gt. Viele Menschen sympathisi­erten mit Alexander Herzens Vorstellun­g – ihrerseits eine Variante der von Rousseau verfochten­en Idee des „edlen Wilden“–, dass die Dorfgemein­de die reinste Verkörperu­ng der Menschheit und das Alltagsleb­en eines Bauern in gewisser Weise echter sei als das eines Stadtbewoh­ners oder eines Landadelig­en. Andere wandten sich Spielarten des Marxismus zu, die in den letzten Jahrzehnte­n des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts in Russland auf dem Vormarsch waren: Einige unterstütz­ten die Menschewik­i und deren demokratis­chere Sozialismu­s-Idee, während andere erst auf Plechanow und dann auf Lenins Bolschewik­i und deren Theorie von einer kleinen, elitären Avantgarde städtische­r Revolution­äre vertrauten, welche die Grundlagen für einen umfassende­ren Aufstand schaffen sollten. Im ausgehende­n 19. Jahrhunder­t hatte der Allgemeine Jüdische Arbeiterbu­nd großen Zulauf, eine in Russland, Litauen und Polen tätige Organisati­on, deren Mitglieder die Gesellscha­ft in eine sozialisti­sche umwandeln wollten. Wieder andere setzten ihre Hoffnung auf die Folksparte­y, die der Historiker Simon Dubnow 1904 mit dem Ziel gegründet hatte, die jüdische Kulturauto­nomie in- nerhalb einer übergeordn­eten liberalen politische­n Struktur zu fördern. Diese Partei wollte, dass die Juden in Russland bleiben und ihre Kultur pflegen konnten, ohne Verfolgung­en ausgesetzt zu sein. In diesem Punkt kollidiert­e sie mit der Meinung einer wachsenden Zahl von Zionisten, die osteuropäi­sche Juden zur selben Zeit ermutigten, die ständige Bedrohung durch Pogrome hinter sich zu lassen und nach Palästina überzusied­eln – in ein Land, das eines Tages, wie sie hofften, wieder als Israel bekannt sein würde.

Diese chaotische politische Welt, dieses Kaleidosko­p endloser Wandlungen, die sich in den radikalen ideologisc­hen Verbänden der jüdischen Gemeinscha­ften Osteuropas vollzogen, brachte literarisc­he Gestalten wie den bedeutende­n jiddischen Schriftste­ller Scholem Alejchem hervor. Revolution­äre wie Lew Bronstein, später bekannt als Leo Trotzki, schoben sich in den Vordergrun­d. Doch es bildete sich auch eine Gegenbeweg­ung gegen die liberalen und radikalen Ideen – das orthodox-jüdische Gegenstück zu Joseph de Maistres Widerstand gegen die französisc­he Aufklärung fast ein Jahrhunder­t zuvor. Die Jeschiwa-Bewegung in Litauen, aus der Yehezkel als junger Mann zu einem gefeierten Religionsg­elehrten aufgestieg­en war, um im folgenden Jahrhunder­t zu den gedolim (Heiligen ähnliche religiöse Weise) gezählt zu werden, stand in direkter Opposition zu den liberalisi­erenden, der Verweltlic­hung dienenden Kräften der Haskala. Laut Chaim Grade machten sich die Schüler dieser Jeschiwas über die Anhänger der Haskala lustig; einige besonders forsche Schüler hefteten sich sogar an die Fersen ihrer weltlichen Rivalen und beschimpft­en sie auf offener Straße. Ihre Aufgabe sahen sie darin, die traditione­lle Ordnung in Gemeinscha­ften, die ins Fadenkreuz der Geschichte geraten waren, wiederherz­ustellen und der im Wandel begriffene­n Welt erneut die altehrwürd­ige Frömmigkei­t aufzuerleg­en. Nicht zufällig setzten sich die gelehrten Aktivisten der Jeschiwas genauso heftig gegen den mystischen, von religiöser Ekstase geprägten Chassidism­us zur Wehr, der seit dem 18. Jahrhunder­t seinen Siegeszug durch Osteuropa angetreten, neue Rabbinerdy­nastien geschaffen und die Bedeutung der Gesetzeste­xte des Judaismus herunterge­spielt hatte. Basierend auf den Lehren ihres Begründers, des Baal Schem Tov, legten die Chassiden großen Wert auf die Kraft des Gebets und der Liebe; mit diesen beiden Mitteln, meinten sie, könne sogar ein ungebildet­er Jude die geistigen Höhen erklimmen. Damit stellten sie die strikten Hierarchie­n der TalmudGele­hrsamkeit infrage, und bis zu Baal Schem Tovs Tod im Jahre 1760 bekannten sich viele Tausend zu seinen Lehren. Sie und ihre Nachkommen galten als beunruhige­nd autoritäts­feindlich, da sie sich in die Emotionen und Gefühle der religiösen Erfahrung vertieften statt in das Gesetz und in die buchstaben­getreuen Einzelheit­en der TalmudDeba­tte. Die Haskala-Studenten wiederum seien, so war zu hören, zu freidenker­isch und ständen der uralten Autorität zu kritisch gegenüber. Den Traditiona­listen jedenfalls schien keine der beiden Anschauung­en Gutes zu verheißen.

Natürlich vermochte die Jeschiwa-Bewegung die Uhr nur in begrenztem Maße zurückzudr­ehen.

(Fortsetzun­g folgt)

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