Rheinische Post Erkelenz

Die Heimat ist der Mensch

- VON HENNING RASCHE

Die Deutschen ergreift die Sehnsucht nach Heimat. Diese verspricht, was es nicht mehr gibt: die in sich ruhende Bundesrepu­blik. Über ein Land, das sich radikal verändert, aber gern hätte, dass es noch mal wird wie früher.

Sie ist mir letztens wieder begegnet. Nicht wie sonst zu Hause, sondern 260 Kilometer davon entfernt, in der wunderbare­n Stadt Bremen. Dort oben, wo Möwen meckern und der Fisch frisch ist, hatte ich, Kind des Ruhrgebiet­s, dieses wohlig wärmende Gefühl in mir, das an Pfannkuche­n erinnert. Die Tante meines Vaters feierte Geburtstag, ihren Neunzigste­n (für den Hundertste­n ist bereits geladen), und so traf sich die Familie zu Tafelspitz und Eis im Norden. Meine Eltern waren dort, einige Cousinen und Cousins meines Vaters, darunter mein Patenonkel. Viele Jahre hatte ich ihn nicht gesehen, aber als wir an einem Tisch saßen, Wein tranken und zwischen Späßen und ernsten Themen schwankten, da wusste ich: Das hier ist sie, die Heimat.

Dieser so urdeutsche Begriff erfährt eine überrasche­nde Renaissanc­e. Politiker aus allen Lagern laben sich an ihm. Die einen wollen die Heimat gegen das Fremde verteidige­n, die anderen wahrschein­lich auch, aber sie geben es nicht so gern zu. Sogar Ministerie­n tragen die Heimat in ihrem Namen. Im Supermarkt verkaufen sie Schlangeng­urken aus heimischen Gärten und am Kiosk Zeitschrif­ten, die eben dorthin führen sollen. Hotelkette­n vertreiben die Heimat als All-inclusive-Paket, mit Radwanderk­arte und gesundem Obstteller für die Fichtensau­na. Sie bedienen letztlich alle dieses eine Gefühl der Sehnsucht.

Für die Rechten besteht Heimat aus Ausgrenzun­g, Nationalis­mus, Abschottun­g. Die Heimat ist für sie das klischeebe­haftete Leben auf dem Land, eine Absage an gesellscha­ftlichen Fortschrit­t und das Fremde. Die Heimat der Rechten ist überschaub­ar und provinziel­l; eher Eintopf als Tafelspitz. Sie überforder­t nicht, weil sie ein propagandi­stisch erzeugtes Bildnis ist – überzeichn­et und verlogen. So wie die Rechten versuchen, den Heimatbegr­iff in ihrem Sinne auf- zuladen, versuchen heute, im Jahr 2018, unterschie­dliche Interessen­gruppen die Deutungsho­heit über den Begriff für sich zu proklamier­en. Das Label Heimat soll Schlangeng­urken an den Mann bringen, Rechten zu Auftrieb und Regierungs­koalitione­n zum Erfolg verhelfen.

In diesem Sinne ist Heimat eine Art Mandala, das jeder mit seinen Lieblingsf­arben ausmalen kann. Und gleichwohl besteht die Gefahr, dass diese Heimat bloß mit einem gestrigen Inhalt aufgeladen wird. Dann aber wäre Heimat nur eine Erinnerung an die vermeintli­ch gute alte Zeit mit der Hoffnung, dass es noch mal wird wie früher. Das wäre indes leider nicht mehr als eine traurige Illusion. Und daher ist Heimat auch viel mehr als das.

Dieses Land verändert sich radikal, vieles davon kann verwirren. Das sehen Sie auf den Straßen, wo die Menschen Smartphone­s tragen, während sie den Kinderwage­n schieben. Das sehen Sie im Bundestag, wo rechte Schreihäls­e beklagen, dass sie nicht mehr sagen dürften, was sie gerade sagen. Das sehen Sie an jungen Berufstäti­gen mit befristete­n Verträgen und miesen Gehältern, die versuchen, eine Familie zu gründen. Das sehen Sie in Ihrer Nachbarsch­aft, wo nummeriert­e Container Obdach für Flüchtling­e aus aller Welt sind. Das sehen Sie an der Metzgerei, die bald schließt, weil sie keinen Nachfolger findet. Das sehen Sie an der Großmutter, die zur Tafel geht, weil die Rente nicht reicht. Deutschlan­d, dieses Heimatland, erinnert nicht mehr an das Land der alten, in sich ruhenden Bundesrepu­blik. Die Menschen misstrauen einander, und sie misstrauen diesem neuen Land. Kann es noch ihre Heimat sein?

Darum geht es doch. Darum installier­t die Politik Ministerie­n der Heimat. Weil sie versucht, das zerrissene Land zusammenzu­halten. Weil sie den Wandel bemerkt, aber nicht spürt. „Es geht nicht um Dirndl oder Lederhose, sondern um gleichwert­ige Lebensverh­ält- nisse in allen Regionen und um den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt“, hat der neue Heimatmini­ster Horst Seehofer (CSU) der „Bild am Sonntag“gesagt. Das klingt sogar fast progressiv, weil der Minister alle gleich umgarnen will. Sein Amt ist aber bloß ein Erste-Hilfe-Koffer für ein Land, das sich ein Bein gebrochen hat.

Die Heimat ist höchstpers­önlich. Seehofer träumt von einer gewissen Portion Homogenitä­t, dabei ist das Land mit individuel­len Träumen und Albträumen befasst. Die Gesellscha­ft singularis­iert sich, sie lässt sich nicht mehr ganz einfach definieren. Vielleicht müsste die Politik sich darauf einstellen, statt wehmütig auf die Vergangenh­eit zu starren. Nach vorne führt der Weg, und das ist auch ganz gut so. Die Heimat darf man nicht den Rückständi­gen überlassen, sie gehört ihnen nicht allein, sondern sie gehört allen.

Heimat ist für die einen das Dorf, für die anderen die Stadt. Sie kann eine konkrete Adresse mit Postleitza­hl und Hausnummer sein, eine ganze Region, das Elternhaus, sich aber auch ganz neu entwickeln. Der Ort, wo die eigenen Kinder aufwachsen, wo sich Familien gründen, kann zur Heimat werden. Manche Menschen haben gar keine Heimat im klassische­n Verständni­s. Aber auch sie können eine Vorstellun­g davon haben, wenn sie im Kreise derer sind, die ihnen das Gefühl der Zugehörigk­eit vermitteln. „Heimat ist der Mensch, dessen Wesen wir vernehmen und erreichen“, hat Max Frisch in seinem Tagebuch von 1949 geschriebe­n. Diese Menschen können in der Ferne sein, und wenn man sie sieht, dann ist da plötzlich die Heimat, gleich an welchem Ort.

Es ist daher auch kein trauriges Gefühl, sondern ein tröstliche­s. Das Land mag sich wandeln, das eigene Leben auch, aber die Menschen, die ein Stück unserer Heimat in sich tragen, die bestehen irgendwo immer fort. So wie mein Patenonkel mir in Bremen zur Heimat wurde, so kann ich ihm Heimat sein. In der Vergangenh­eit liegt keine Zukunft, nicht in der Politik und auch nicht zu Hause.

Heimat ist eine Art Mandala, das jeder

mit seinen Lieblingsf­arben ausmalen kann

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