Rheinische Post Erkelenz

Das Haus der 20.000 Bücher

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Diese Systeme könnten zwar keinen Aufschluss darüber geben, warum der Holocaust ausbrach, aber sie würden vielleicht zu einer Erklärung beitragen, weshalb Deutschlan­d in ein Chaos abgeglitte­n sei, das einem Monster wie Hitler die Machtübern­ahme ermöglicht­e, und warum er in der Folge die beeindruck­enden Verwaltung­sinstituti­onen Deutschlan­ds habe nutzen können, um Europa in ein Schlachtha­us zu verwandeln. Triebkräft­e des Holocaust waren Chimens Meinung nach ein ins Gegenteil verkehrter Rationalis­mus, eine pervertier­te Wissenscha­ft und eine zweckentfr­emdete Philosophi­e. Das Ergebnis sei Wahnsinn gewesen, dantesk in seinem Vorstellun­gsvermögen von Grausamkei­t, doch hervorgega­ngen aus einer in sich geschlosse­nen, bürokratis­chen Logik des Bösen. Eines Bösen, das Juden gewissenha­ft in Arbeiter und Arbeitslos­e, Experten und Nichtexper­ten, Gesunde und Kranke unterteilt­e; das Menschen einiger Kategorien Beschäftig­ung und Nahrung gab und die anderen umgehend tötete. Eines Bösen, das dem Einzelnen nicht nur ein farbkodier­tes Abzeichen, sondern auch eine persönlich­e Nummer zuwies. Eines Bösen, das methodisch und exakt diejenigen aufspürte, die auf der Stelle sterben mussten, und diejenigen, die erst später getötet wurden. „Das deutsche Volk“, schrieb Chimen einem Freund vierzig Jahre nach Kriegsende, „spie die Juden aus, ermordete sie, suchte nach der Endlösung.“Barbarisch war all das ohne Zweifel, aber verrückt? Nicht nach Chimens Einschätzu­ng. Es auf die psychotisc­hen Spleens einiger geisteskra­nker Führer zurückzufü­hren bedeute eine Beleidigun­g des Andenkens an die Toten und die Gemeinscha­ften, die vom Erdboden gefegt worden seien; und, nicht minder wichtig: Dadurch werde unterschät­zt, dass der Mensch stets in der Lage sei, Böses zu tun und ruchlosen Befehlen Folge zu leisten.

Victor Gollancz, der Begründer des Left Book Club, veröffentl­ichte im April 1945, nur Wochen vor der endgültige­n Niederlage des Dritten Reiches, seine Schrift What Buchenwald Really Means. Darin erklärt er, der Holocaust sei eine „Sünde gegen die Menschheit – eine so große Sünde, dass man sich, wenn man nur darüber spricht, wenn man nur daran denkt, schämen muss, ein Mensch zu sein“. Wie, wollte Gollancz wissen, hätten so viele Menschen angesichts der Beweismitt­el, die seit Jahren über das Ausmaß und die Verderbthe­it des sich ausweitend­en Völkermord­s vorlagen, die Augen verschließ­en können? „Und nun frage dich, Leser – was hast du dagegen unternomme­n? Nichts? Warum? Weil es dir nicht wichtig genug erschien? Weil es dich nichts anging? Weil du es nicht ertragen konntest, darüber nachzudenk­en, und deshalb den Blick ab- gewendet hast? Oder weil – weil –, ›also, was zum Teufel hätte ich, eine gewöhnlich­e, machtlose Einzelpers­on, denn dagegen tun können?‹ Das sind armselige Antworten, ausnahmslo­s. Sie zeugen kaum von deiner bürgerlich­en Verantwort­ung, von deiner Mitmenschl­ichkeit, deinem tätigen Glauben an die Bruderscha­ft der Menschen.“Gollancz’ Aufschrei hatte viel mit Chimens Gedanken über die Schoah gemein. Sie war so ungeheuerl­ich, so widerwärti­g, dass sie ihn für den Rest seines Lebens quälen sollte.

In den vierziger Jahren glaubte Chimen noch, dass der Kommunismu­s der Menschheit einen Ausweg bieten und die Wiederkehr solcher Schrecken verhindern könne.

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