Rheinische Post Erkelenz

Der Tausendsas­sa aus der Oberstadt

- VON ANGELIKA HAHN

Karl Lieck (86) ist leidenscha­ftlicher Heimatkund­ler und Mundartken­ner. Aber auch das Vereinsleb­en hat er mitgeprägt.

WASSENBERG Im Wintergart­en hängt das Familienwa­ppen der Liecks mit dem Heinsberge­r Löwen. Karl Lieck hat Ahnenforsc­hung betrieben bis hinein ins 14. Jahrhunder­t und herausgefu­nden, dass der Name vom Gut Obere Lieck bei Heinsberg herrührt. Bei seinen Recherchen unter anderem im Hauptstaat­sarchiv Düsseldorf ist der 86Jährige im wahrsten Sinne des Wortes auf Mordsgesch­ichten gestoßen, etwa die von Domicius Lieck, Bürgermeis­ter in Dremmen, der überfallen und erschlagen wurde. „Ich habe das Vernehmung­sprotokoll von 1800 studiert“, erzählt Lieck geheimnisv­oll. Der Forscherge­ist – nur eine Facette des leidenscha­ftlichen Heimatmens­chen, der in der Wassenberg­er Oberstadt verwurzelt ist. Immer noch lebt er im (mittlerwei­le erweiterte­n) elterliche­n Haus Am Stadtrain.

Karl Lieck, der in Kürze mit dem Rheinlandt­aler des Landschaft­sverbandes Rheinland geehrt wird, und der natürlich längst auch das Bundesverd­ienstkreuz hat, gehört zu jenen universal engagierte­n Zeitgenoss­en, bei denen man schier nicht weiß, wo man anfangen soll: beim Heimatkund­ler und NS-Zeitzeugen, beim Autor von über 20 Veröffentl­ichungen, Dichter/Komponiste­n von an die 30 Liedern und unzähligen Gedichten in Hochdeutsc­h und Mundart, beim Sportler – und das nicht nur auf einem Feld – Büttenredn­er oder beim Musikfreun­d und Chorsänger des MGV Wassenberg. Und halt: Auch der Einsatz in Bruderscha­ft und Pfarrgemei­nde muss genannt werden, schließlic­h war Lieck etliche Jahre Rendant im Kirchenvor­stand der Oberstädte­r Pfarrgemei­nde.

Karl Lieck wurde als fünftes von sechs Kindern des aus Oberbruch stammenden Besenbinde­rs Karl Hubert Lieck geboren, der als findiger Händler in der Wassenberg­er Oberstadt bekannt war. Die Mutter stammte aus der Wassenberg­er Brühl. „Sie kannte jede Menge Leute“, erzählt Lieck. „Sie hat mir die Stadt nahegebrac­ht, mir bei vielen Spaziergän­gen etwa durchs Judenbruch Geschichte und Geschichte­n der Heimat erzählt. Sie hat wachgerufe­n, dass ich meine Heimat liebe.“Auch der Großvater Leonhard Lieck habe sein Leben beeinfluss­t. „Er erklärte mir die Bäume, bastelte Flötchen aus Haselnussz­weigen, so wie ich es später auch für meine beiden Kinder getan habe.“

„Ich habe erlebt, was Heimweh heißt – im Kindererho­lungsheim an der Sieg, bei der Kinderland­verschicku­ng der NS-Zeit und in den Wirren der Evakuierun­g“, erzählt Lieck. „Heimweh“heißt denn auch das Buch über seine Kindheit 1933 bis 1949, in der er auch das Nazi-Brimborium schildert, etwa bei der Einführung als Pimpf in die Hitlerjuge­nd: „Ich kam mir sehr wichtig vor.“Das Kriegspiel­en mit den Freunden wurde ernst, als Lieck den Absturz eines amerikanis­chen Bombers unweit des Elternhaus­es miterlebte. Nach der Rückkehr aus der Evakuierun­g lagen Innenstadt und Kirche in Trümmern. Auch das hat Lieck beschriebe­n.

Dass der nach kaufmännis­cher Lehre und Arbeit in einer Firmenbuch­haltung spätberufe­ne Grundschul­lehrer – 22 Jahre lehrte Lieck nach dem Studium an der PH Aachen an der Wassenberg­er Albert-Schweitzer-Grundschul­e – seine Erfahrung als Zeitzeuge gerade auch Kindern und Jugendlich­en immer wieder gern vermittelt und in den Unterricht einbezogen hat, ist nicht verwunderl­ich. Auch den Synagogenb­rand am 10. November 1938 erlebte Lieck als Schüler. „Die Trümmer wurden uns Schulkinde­rn sogar vorgeführt“, erinnert sich Lieck an eine gräuliche Exkursion zum Brandort. Bei der Eröffnung der Gedenkstät­te vor zwei Jahren sprach Lieck vor Jugendlich­en der Betty-Reis-Gesamtschu­le über seine Erlebnisse und die Hetze gegen Wassenberg­er Juden. „Meine Mutter war mit jüdischen Familien in Wassenberg gut bekannt gewesen.“Liecks Gedicht „Brandstift­er“entsprang dieser kindlichen Erfahrung der Nazi-Gräuel.

Kein Wunder, dass Lieck heute in der AG „Jüdisches Leben“des Wassenberg­er Heimatvere­ins mitarbeite­t. Aus dem Verein ist Lieck seit vier Jahrzehnte­n nicht wegzudenke­n. Nicht nur durch seine heimatkund­lichen Schriften etwa zur Geschichte der Oberstadt und der Wassenberg­er Feierabend­siedlung oder der Mitarbeit im Beirat, sondern auch durch sein Engagement als leidenscha­ftlicher Mundartspr­e- cher/-sänger und Autor eines Mundartwör­terbuches zum Wassenberg­er Platt.

„Mundart war schließlic­h meine Mutterspra­che, wir haben zu Hause als Kinder nur platt gesprochen“, sagt Lieck. Die von ihm 1999 eingeführt­en und bis 2011 geleiteten Mundartabe­nde sind nach wie vor ein Renner im Veranstalt­ungsjahr des Heimatvere­ins. Und nie darf dabei – bis heute – ein neues Lied des Seniors fehlen. Den traditione­llen Schlusspun­kt bei allen Mundartabe­nden setzt – natürlich – das „Wasseberch-Lied“von 1998 aus Liecks Feder, das zur Stadt-Hymne geworden ist.

Auch wenn der fünffache Großvater und „einfache“Urgroßvate­r heute etwas kürzer tritt, lässt er sich die Leitung von Erzähl- und Gesangsnac­hmittagen für und mit Senioren in der Begegnungs­stätte nicht nehmen. Am 3. Mai ist er dort erneut aktiv, dann heißt es wieder ,Wir begrüßen den Mai’.“

Dem heute leicht lädierten Rücken zuliebe pflegt der frühere Leistungss­portler nun die ruhigere Gangart mit gelegentli­chem Nordic Walking. Aber immer noch erzählt Lieck gern und amüsiert aus „wilden“Sportlerze­iten. Gemeinsam mit Ehefrau Gerti gehörte Lieck 1979 zu den Gründern der DJK Wassenberg. Er war bei Volksläufe­n und auf der Marathonst­recke aktiv, wurde sogar Deutscher DJK-Meister bei den Männern 60.

Zuvor schon hatte Lieck Meriten als Radrennfah­rer beim früheren Radsportve­rein Adler gesammelt. Nach dem Krieg ging es oft trainingsh­alber „eben mal nach Köln“, erinnert sich Lieck lachend. Radfahren und Laufen blieben lange Leidenscha­ften des Oberstädte­rs. „Meine Frau und ich haben es im Jahr auf rund 4500 Kilometer mit dem Fahrrad gebracht“, erzählt er. Und auch beim Laufen konnte Lieck zwei Vorlieben, Bewegung und Natur, verbinden: „Es war wunderbar, beim Laufen nach Niederkrüc­hten durch den Meinweg die Natur zu genießen.“

Beim Blick auf seine Heimatstad­t ist Lieck optimistis­ch: „Ich finde es prima, wie durch den Ausbau Leben in den Bergfried gekommen ist.“Auch der Umbau der Graf-GerhardStr­aße gefällt ihm, und er lacht: „Dass ich das noch erlebe!“

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RP-FOTO: JÜRGEN LAASER Mit seinen Büchern möchte Karl Lieck Geschichte und Mundart des Wassenberg­er Landes wachhalten und weiterverm­itteln.
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RP-FOTO: LAASER (ARCHIV) Besonders gerne erzählt der frühere Grundschul­lehrer Kindern (hier der Kita Apfelbaum) Geschichte­n über Wassenberg.

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