Das Haus der 20.000 Bücher
Auch als Kommunist lebte er streng koscher, und es widerstrebte ihm, zumal in London, wo ihm fromme Verwandte oder Bekannte begegnen konnten, in nichtkoscheren Restaurants zu essen. Ohnehin musste er in diesen Jahren jeden Penny zweimal umdrehen. Selbst eine billige Mahlzeit mit seinen Parteigenossen wäre ihm als unvernünftiger Luxus erschienen. Doch trotz finanzieller Engpässe zählte er zu den zweiundzwanzig Historikern, die sich die fünf Schilling Mitgliedsgebühr vom Munde absparten. Nach den Sitzungen brachen Eric Hobsbawm, der erste Schatzmeister der Gruppe, der auch einem weiteren Gremium mit dem unschönen Namen Polemik-Komitee vorsaß, und verschiedene andere Mitglieder ihre Zelte bei Garibaldi’s ab, stiegen in die U-Bahn und fuhren zum Hillway, um dort bis tief in die Nacht hinein zu essen und zu debattieren.
Das Esszimmer war damals, noch vor dem Ausbau in den Garten, ziemlich beengt; fast die gesamte Fläche wurde von einem kleinen Tisch, Stühlen sowie zwei oder drei Sesseln eingenommen. Mimi brachte die Tabletts mit Speisen aus der Küche und musste dafür die Diele durchqueren. Dann schlängelte sie sich zwischen den Stühlen hindurch und beugte sich über die Gäste, um an den Tisch zu gelangen. Die Besucher saßen dicht an dicht. Benutzte Teller mussten rasch weggeräumt werden, nicht der Etikette halber, sondern um Platz für weitere Gerichte zu schaffen.
An den Wänden nahe am Tisch hingen immer wieder wechselnde Gemälde, gewöhnlich eines der Werke, die Künstlerfreunde meinen Großeltern geschenkt hatten. Die gegenüberliegenden Wände waren mit Regalen verkleidet. Im Laufe der Jahre fanden sich dort immer mehr Bücher über jüdische Geschichte ein, viele in hebräischer oder jiddischer Sprache. Hier standen auch seltene Werke über jüdische Künstler, darunter Sammelbände mit hochwertigen Reproduktionen von Zeichnungen Marc Chagalls, „der Schlüsselfigur der jüdischen Kunst“in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, wie Chimen in einem Essay schrieb. Dieser war dem Katalog für eine Ausstellung im Jerusalemer IsraelMuseum beigefügt; sie trug den Titel Tradition und Revolution. Die jüdische Renaissance in der russischen Avantgarde-Kunst 1912–1928. Chagall, erläuterte Chimen, male „eine Traumwelt aus Poesie und Zauberei“. Seine Bildsprache künde von den Erfahrungen der Juden des Schtetls sowie von dem Kummer eines Volkes, das zwischen Vergangenheit und Zukunft hin und her ge- rissen werde, zwischen dem Sog der Moderne und der Vertrautheit der alten Bräuche. Sie sei manchmal wunderlich, doch meistens zutiefst melancholisch. Viele der Gemälde, fuhr Chimen fort, sollten Chagalls Entsetzen „nach den Pogromen gegen die Juden während des Bürgerkriegs in der Ukraine“ausdrücken.
Hier wurden auch eine Sammlung farbiger, nummerierter und signierter Lithografien des russischen Malers Anatoli Kaplan sowie illustrierte Geschichten von Scholem Alejchem verwahrt, darunter „Tevye der Milkhiker“und „Mottel der Kantorssohn“, die als Grundlage für das Musical Anatevka gedient hatten. Zudem gab es Kollektionen seltener Holzschnitte sowie Bücher mit illustrierten Gedichten und Grafiken aus den frühen russischen Revolutionsjahren.
(Fortsetzung folgt)