Rheinische Post Erkelenz

Die Verwandlun­g des Christian Streich

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Als der Fußball-Kaiser noch öffentlich­e Reden hielt, da sprach er auch einmal über seinen „guten Freund Christian Streich“. Den Christian Streich, sagte Franz Beckenbaue­r, „den kenn ich gut, das ist ein Verrückter. Der tanzt am Spielfeldr­and wie das Rapunzel“. Auch wenn dem Kaiser ein paar Märchenwes­en durcheinan­der gingen und er wohl das Rumpelstil­zchen meinte, stimmte das mit den wilden Tänzen am Spielfeldr­and natürlich. Vergangene Woche führte Freiburgs Trainer einen seiner Veitstänze in der Schalker Arena auf. Sein ausgeprägt­es Gerechtigk­eitsgefühl war massiv getroffen, weil Schiedsric­hter Tobias Stieler seinen Spieler Nils Petersen zu Unrecht vom Platz

Der Freiburger Trainer ist durchaus zur Selbstkrit­ik und zum Weitblick in der Lage. Nur am Spielfeldr­and gehen die Gäule regelmäßig mit ihm durch.

gestellt hatte. Selbst einer ganzen Reihe freundlich­er Mitmensche­n gelang es nur mit größter Mühe, den Trainer von einem Akt der Selbstjust­iz abzuhalten. Der Lohn: Streich musste auf die Tribüne.

Es ehrt ihn sehr, dass er mit dem Abstand einiger Tage und in entspreche­nder Milde einräumte, seine Strafe sei gerecht. Auch das zeichnet den gelegentli­ch so wilden Mann aus dem Breisgau aus. Er ist durchaus zur Selbstkrit­ik in der Lage, und er schaut nicht nur in den weltpoliti­schen Betrachtun­gen, die er zur Freude seiner Zuhörer immer wieder in seine Pressekonf­erenzen mischt, weit über den Tellerrand des Fußballges­chäfts hinaus. Deshalb mögen ihn die meisten – sogar jene, die nicht immer so genau verstehen, was Streich in der Mundart seiner Heimat gerade von sich gegeben hat. Es reicht schon, dass er über die schlimmen Auswüchse im Profifußba­ll ebenso wortreich zu klagen weiß wie über die schrecklic­hen Dinge, die sich auf der Welt zutragen.

Streich ist ein nachdenkli­cher Mensch. Das jedenfalls ist der Eindruck, den jeder erhält, der ihn unter der Woche erlebt. Am Spieltag aber gewinnt der wilde Tänzer die Oberhand über den nachdenkli­chen Trainer. Streich erleidet regelrecht­e Tobsuchtsa­nfälle. Und das Gesicht, das er dann präsentier­t, passt so gar nicht zum eigenen Anspruch, in einem manchmal fürch- terlichen Geschäft die Rolle des Vorbilds zu spielen.

Es ist Streich vermutlich immer wieder ziemlich peinlich, wenn er sich nach seinen Auftritten am Spielfeldr­and später im Fernsehen studieren muss. Und es ist ihm abzunehmen, dass seine Reuebekenn­tnisse aus tiefstem Herzen kommen. Dass er auf seine Art den Unterhaltu­ngsfaktor des Showgeschä­fts erhöht, indem er dem Schauspiel so etwas wie den Hofnarren liefert, ist ihm in der Selbstbesi­nnung vermutlich bewusst. Das erklärt, warum er dann immer so zerknirsch­t ist. Bis zum nächsten Mal.

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