Rheinische Post Erkelenz

Das Haus der 20.000 Bücher

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Es war eine Suche nach Sinn. Eine Religion, die an Menschen, nicht an ein höheres Wesen glaubte. Eine Art Religion, aber nicht völlig blind.“Allmählich wurde der Druck jedoch zu groß. Mimi wollte nichts mehr mit der Partei zu tun haben. Gegen gute Freunde wie Saville war gehetzt worden, weil sie sich der Parteilini­e nicht unterordne­n wollten, andere wie Paulines Mann Royden, ein Historiker an der Sheffield University, waren schlicht der Meinung, dass es zu viele intellektu­elle Verrenkung­en erfordere, in der Partei zu bleiben. „Man musste der Partei gegenüber extrem loyal sein“, erinnerte sich Pauline. „So gesehen war es eine gewaltige Erleichter­ung, etwas aufzugeben, das man hatte verteidige­n müssen, obwohl man den Glauben daran verloren hatte.“1958 trat Chimen aus der Partei aus. Er hatte endlich eingesehen, dass die liberale Welt der Ideen, der er sich naturgemäß verbunden fühlte, den tyrannisch­en Neigungen revolution­ärer Führer nicht standhielt.

Die Ereignisse von 1956 hatten Chimens Sympathie für die Sowjetunio­n zwar unterhöhlt; dennoch bewegte ihn der Einmarsch in Ungarn nicht zum sofortigen Austritt. Auslöser war vielmehr die Entdeckung, dass seine Annahme, es gebe keinen Antisemiti­smus mehr in der Sowjetunio­n, ein Trugschlus­s war. Und nachdem er sich in diesem Punkt getäuscht hatte, musste er folglich den vernichten­den Schluss ziehen, dass viele seiner anderen Thesen über das Leben in der Sowjetunio­n vermutlich ebenfalls nicht zutrafen. Den Anstoß gaben Erkenntnis­se seines engen Freundes Hyman Levy, der im Zuge seiner Arbeit mit der Partei aneinander­geraten war.

Levy, ein Mathematik­professor am Imperial College in London, hatte die Kühnheit zu schreiben, dass Antisemiti­smus in der Sowjetunio­n ein Problem darstelle. „Der Antisemiti­smus wird vertuscht – ich bin der Meinung, dass ich hierzu Stellung beziehen muss“, ließ er Chimen 1958 wissen. Der kleine Bogen Papier trägt den Briefkopf des zum Imperial College gehörenden Huxley Building. „Das schulde ich all den Juden, denen seit vielen Jahren versichert wird, dass dies ein Relikt des Zarismus sei, das in der Sowjetunio­n keine Rolle mehr spiele.“All den wahren Gläubigen, die von den utopischen, postnation­alistische­n Vorzügen der UdSSR überzeugt waren, erschienen solche Äußerungen geradezu verräteris­ch. Levys Empörung hatte sich seit mehreren Jahren gesteigert. Bereits fünf Jahre zuvor, am 16. April 1953, hatte er Chimens vertrauens­selige Annahme kritisiert, dass die jüdischen Ärzte, denen man einen Giftanschl­ag auf Stalin zur Last legte, allein aufgrund der Tatsache, dass man sie vor Gericht gestellt hatte, schuldig sein müssten. „Du hast mir nahegelegt“, tadelte er Chimen, „die Möglichkei­t, dass die Moskauer Ärzte unschuldig seien, nicht zu erwägen, denn wenn die Sowjetregi­erung diese Sache weiterverf­olge, müsse etwas gegen sie vorliegen.“In der Zwischenze­it war Stalin gestorben und der Prozess eingestell­t worden; außerdem hatte die neue Sowjetführ­ung bekannt gegeben, dass von vornherein kein schlüssige­s Beweismate­rial gegen die Ärzte existiert habe. „Könnte man vielleicht sagen, dass du eine mechanisti­sche Haltung eingenomme­n hast?“, rügte Levy seinen Freund milde. „Es macht mir nichts aus, als Dummkopf dazustehen, wenn es absolut notwendig ist – doch es ließe sich bisweilen vermeiden –, es liegt in unserem Ermessen, kritisch zu sein. Was meinst du?“

Nun, nach Levys Hinauswurf, waren Chimen die Augen geöffnet worden, und wie sein Freund konnte auch er nicht länger schweigen.

(Fortsetzun­g folgt)

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