Rheinische Post Erkelenz

Konfliktst­off

- VON FRANK VOLLMER

Landesregi­erung will Mädchen unter 14 verbieten, ein Kopftuch zu tragen. Belastbare Zahlen, wie häufig das Phänomen ist, gibt es nicht. Klar ist aber: Mit dem Kopftuch ist es viel komplizier­ter, als viele Kritiker glauben möchten.

DÜSSELDORF Mit oder ohne? Das ist hier die Frage. Es geht mal wieder um den Islam, genauer gesagt: um das Kopftuch. Anlass ist der Vorstoß der nordrheinw­estfälisch­en Landesregi­erung, Mädchen unter 14 Jahren das Tragen eines Kopftuchs zu verbieten. Das Kopftuch ist mehr als ein Kleidungss­tück, mehr als ein religiöses Symbol. Es ist Objekt eines Kulturkamp­fs, Konfliktst­off im Wortsinn. Woher es aber kommt, wer es trägt und warum – das ist vielen unklar. Die Geschichte Im Wüstenklim­a des Nahen Ostens sind Kopftücher (für Frauen und Männer) seit jeher praktische­r Teil der Kleidung. Religiöse Verschleie­rung kennt nicht nur der Islam: Paulus fordert im ersten Korintherb­rief, Frauen sollten beim Gebet ihr Haupt verhüllen. Religiöse Jüdinnen bedecken noch heute ihr Haar mit Mützen oder Perücken.

Der Koran und die Überliefer­ungen der Taten Mohammeds sprechen den Schleier an. „O Prophet, sag deinen Gattinnen und deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen etwas von ihrem Überwurf über sich herunterzi­ehen“, heißt es etwa in Koransure 33. Ob das den Kopf betrifft oder eher die Brust – darüber streiten die Gelehrten, wobei gewichtige konservati­ve Auslegunge­n zur Kopftuchpf­licht tendieren. So oder so: „Zu Zeiten des Propheten wurde eine Frau durch das Kopftuch oder weite Umhänge als ehrbare Muslimin erkennbar“, resümiert die Göttinger Islamwisse­nschaftler­in Riem Spielhaus: „Zuzuordnen zu sein, bedeutete auch mehr Schutz.“Das Kopftuch war in einer weithin barbarisch­en Welt ein sozialer Fortschrit­t. Die Zahlen In der islamische­n Welt erlebt das Kopftuch ein Comeback, wie die Religiosit­ät insgesamt. Für Deutschlan­d fehlt eine aktuelle repräsenta­tive Studie, wie viele Musliminne­n Kopftuch tragen. Eine Erhebung des Bundesamts für Migration und Flüchtling­e (Bamf) datiert bereits von 2008. Damals gaben 72 Prozent von 3700 Musliminne­n an, sie trügen nie Kopftuch. Es gibt keine statistisc­hen Hinweise, dass sich das grundlegen­d geändert hat.

Von den Mädchen bis zehn Jahren trugen damals 2,5 Prozent ein Kopftuch, von den Elf- bis 15-Jährigen 6,9 Prozent. Auch hier gibt es keine belastbare­n neueren Zahlen, nur Einzelbeob­achtungen, polemisch gesagt: gefühlte Wahrheit. So stellt NRW-Integratio­nsstaatsse­kretärin Serap Güler (CDU) fest, das Phänomen werde „immer sichtbarer“. Gesamtschu­lleiter sehen ebenfalls eine Zunahme, aber „kein relevantes Phänomen“. Die Schulleite­rin einer Dortmunder Grundschul­e (280 von 345 Kindern sind Muslime) gibt an, sechs Mädchen trügen Kopftuch – das wären gut drei Prozent. Rechnet man die Prozentsät­ze von 2008 auf die Schülerzah­len in NRW hoch, erlaubt das die grobe Schätzung, dass 5000 Erst- bis Neuntkläss­lerinnen im Land Kopftuch tragen. Die Bedeutung Die Gretchenfr­age: Warum Kopftuch? Für die Bundesrepu­blik gibt es dazu neben der Bamf-Studie eine Erhebung der Adenauer-Stiftung von 2006 und eine Dissertati­on der Linguistin, Moderatori­n und Rapperin Reyhan Sahin von 2012. Sie alle stimmen in einem überein: Frauen tragen Kopftuch aus religiösen Gründen – auch wenn der Koran es nicht eindeutig vorschreib­en mag, wird er so verstanden. Nur eine kleine Minderheit (in der Bamf-Studie sechs Prozent) erklärt, das Kopftuch auf Druck der Familie zu tragen. Das könne daran liegen, gibt Spielhaus zu bedenken, „dass niemand gern Opfer und Objekt sein will“– zugleich wird es damit aber sehr unwahrsche­inlich, dass ein Großteil der Frauen ihr Kopftuch gezwungene­rmaßen trägt.

Alles Weitere ist, vorsichtig gesagt, komplizier­t. In der Bamf-Studie war der zweithäufi­gste Grund: „Vermittelt mir Sicherheit“. Sahin führt an, manche Frauen wollten sich vor männlichen Blicken und die Männer vor ihren weiblichen Reizen schützen. Andere wollten sich als sexuell treu bezeichnen, als anständig: Das sei ein Vorteil auf dem „Heiratsmar­kt“der Muslime.

Und schließlic­h, für manchen Islamkriti­ker schier unglaublic­h, sei das Kopf- tuch „Emanzipati­onszeichen“: für bewusste Religiosit­ät, anders als bei den Eltern. Und als Statement gegen Diskrimini­erung in Deutschlan­d (etwa auf dem Arbeitsmar­kt) – mit der paradoxen Folge, dadurch eventuell erneut Nachteile zu erleiden. Und oft wird das Kopftuch mit modischer Kleidung kombiniert. Spielhaus: „Das Tuch gehört zu einem Lifestyle, der in Blogs, Musikvideo­s und künstleris­chen Fotos inszeniert und gefeiert wird.“Eine bestimmte politische Gesinnung seiner Trägerin ist aus dem Kopftuch also kaum ablesbar. Die Kinder Im Islam sollen Kinder vorsichtig an die Gebräuche herangefüh­rt werden, etwa ans Fasten. Für Eltern, die das Kopftuch für Pflicht halten, würde Ähnliches gelten; eine Kopftuchpf­licht für Kinder lehnen Theologen aber fast unisono ab. Juristisch wird es spätestens hier trotzdem schwierig: Beim Kopftuchve­rbot geht es nicht nur um das Grundrecht des Kindes auf Unversehrt­heit, sondern auch um das Grundrecht der Religionsf­reiheit (das Eltern für ihre Kinder ausüben, solange die unter 14 sind) und das Recht der Eltern auf Erziehung. Unter Experten ist ein Verbot heftig umstritten. Spielhaus lehnt es ebenso ab wie ihr Osnabrücke­r Kollege Bülent Uçar, der liberale Münsterane­r Theologe Mouhanad Khorchide befürworte­t es, die liberale Seyran Ates hält es für nötig. Der wissenscha­ftliche Dienst des Bundestags kam 2017 zu dem Schluss, ein komplettes Verbot des Kopftuchs (anders als der vollen Gesichtsve­rschleieru­ng) sei unzulässig. Ähnlich entschied das Verfassung­sgericht 2015 in Bezug auf Lehrer. Fazit Ein Kopftuchve­rbot wäre eine politische Entscheidu­ng. Ein Kopftuch zu tragen, ist, soweit wir wissen, dagegen eher selten eine politische Entscheidu­ng, sondern eine religiöse. Kein Kopftuch zu tragen, bedeutet umgekehrt aber nicht, nicht religiös zu sein. Ein Kopftuchve­rbot, das Verbot eines Symbols, wäre selbst ein Symbol. Nicht weniger, nicht mehr. Klingt komplizier­t? Ist es auch. Aber diese Komplexitä­t sollten wir uns schon leisten.

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