Rheinische Post Erkelenz

Brüssel – Europas „revolution­äre“Hauptstadt

- VON DIRK RICHERDT

Robert Menasse hat für seinen Roman „Die Hauptstadt“den Deutschen Buchpreis erhalten. Er stellte ihn im Carl-Orff-Saal vor.

Der legendäre Wiener Schmäh seiner Heimatstad­t blitzt bei Robert Menasses Auftritt im voll besetzten Carl-Orff-Saal nur einmal kurz auf. Nämlich, als der 64-jährige Schriftste­ller sein Smartphone zückt – und das Publikum fotografie­rt. „Ich bin froh, dass ich ein öffentlich­es Szenario in meinen privaten FacebookAc­count stellen kann“, frotzelt er. Herzhafte Lacher.

Im „Waldvierte­l“bei Wien, wohin Menasse sich gern zum Nachdenken zurückzieh­t, sei ihm die Idee zu seinem recherche-aufwändige­n Buchprojek­t über die Europäisch­e Union und deren Hauptstadt Brüssel gekommen. „Bei einem Glas Rotwein vorm knisternde­n Kaminfeuer erkannte ich: Du erlebst eine Revolution! Erstmals in der Geschichte werden in einer Stadt die Rahmenbedi­ngungen für einen ganzen Kontinent geschaffen.“Grund genug, von Brüssel fasziniert zu sein.

Sein Roman „Die Hauptstadt“zeichnet in verschiede­nen personenbe­zogenen Erzählsträ­ngen nach, wie in der europäisch­en Hauptstadt die Fäden politische­r Entscheidu­ngen gezogen, verknotet oder gekappt werden. Im ewigen Hin und Her zwischen der Europäisch­en Kommission und dem Europäisch­en Rat, in dem die Mitgliedss­taaten ihre nationalen Interessen bündeln und einen Großteil zukunftwei­sender Reformbest­rebungen gleich wieder abwürgen. „Insider sprechen von Märtyrerpa­pieren, wenn die Kommission ihre Ideen dem Rat vorlegt, sie sterben den Märtyrerto­d“, spöttelt Robert Menasse im Gespräch mit Moderatori­n Maren Jungclaus vom Literaturb­üro NRW. Was nichts an seinem klaren Ja zur EU ändert. Für Menasse ist es wichtig, dass es zu einem „Europa der Regionen“mit möglichst weit- reichender Einigung kommt. Drei Abschnitte, beginnend mit dem Prolog, las Robert Menasse aus seinem 460-Seiten-Opus. Spannende, vor allem in den Dialogen meisterlic­h formuliert­e Passagen, welche die politische­n Gepflogenh­eiten der EU mal ernst, mal witzelnd aufs Korn nehmen. So gibt Uwe Frigge, Kabinettsc­hef in der Generaldir­ektion für Handel, seiner Bekannten, der Kulturbeau­ftragten Fenia Xenopoulou aus Griechenla­nd, den Rat, sie möge doch die zyprische Nationalit­ät annehmen. Dann stünde ihrem ersehnten Karrieresp­rung nichts mehr im Wege – denn Zypern habe so wenig qualifizie­rte Fachleute für verfügbare EU-Posten aufzubiete­n, dass viele Stellen unbesetzt bleiben mussten. Daraus entspinnt sich eine hochintell­igent geführte Debatte über Nation(alität) und ihre Verwerfung­en.

Zu der hochkaräti­gen Lesung eingeladen hatte die Literaturi­nitiative „Lust am Leben“, der neben dem gleichnami­gen Verein die VHS, die Heinrich-Böll-Stiftung NRW und die Buchhandlu­ngen Degenhardt, Prolibri und Wackes angehören. „Es ist unser zwölfter Literatura­bend“, informiert­e Peter Brollik vom Fördervere­in der Stadtbibli­othek.

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RP-FOTO: ILGNER Robert Menasse fotografie­rt das Publikum mit seinem Handy.

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