Rheinische Post Erkelenz

Molières Tartuffe und alternativ­e Fakten

- VON ANNETTE BOSETTI

Die fast 500 Jahre alte Komödie erweckt das Düsseldorf­er Schauspiel­haus mit Spielwitz und Phantasie.

DÜSSELDORF Tartuffe hat schon beinahe 400 Jahre auf dem Buckel. Und ist doch ein Typ von heute. Seltsam lebendig und wirkmächti­g. Komödiensc­hreiber Molière hat ihm 1664 in Paris ein Stück auf den Leib geschriebe­n, in dem seine Machenscha­ften und Begabungen schillernd wie drastisch ausgebreit­et werden: Betrug, Lüge, Verstellun­g, Scheinheil­igkeit hat er drauf und die seltsame Gabe, Menschen für sich zu begeistern, die dem zwielichti­gen Charakter am Ende vollends erliegen. Sie geben Hab und Gut her, weil sie glauben, dass Tartuffe ein Heilsbring­er sein könnte.

Dieser Tartuffe feiert nun sein Comeback am Düsseldorf­er Schauspiel­haus in der anregenden Sichtweise des noch jungen Regisseurs Robert Gerloff. Drei farbige Riesenball­ons beherrsche­n alleine die Bühne ohne Requisiten (Maximilian Lindner), die neun Darsteller hat Kostümbild­nein Johanna Hlawica wie Würste in grelle superenge Gummikostü­me gepresst. Sie tragen kunstvoll geklebte Perücken, die sie aus jeder Zeitzuordn­ung herauslöse­n. Man sieht sofort: Das trügerisch­e tiefenpsyc­hologische Spiel wird auf einer Ebene entwickelt, die die Groteske liebt, den Slapstick aber oder banale Aktualisie­rungen wohlweisli­ch vermeidet.

Molières dramatisch­e Kraft war es, durchsicht­ige Figuren zu erschaffen, die in ihren Dialogen Menschheit­s- und Weltgeschi­chte preisgeben. Die Handlung spielt nur eine untergeord­nete Rolle. Man spricht miteinande­r und stellt dar, was Worte bedeuten. Was sie mit dem Menschen anrichten können. Um die Psychologi­e zu verstärken, setzt der Regisseur aufs subtile Spiel der Truppe. Ein jeder für sich entwickelt fesselnde Mimik und Körpergewa­lt. Wenn die Worte nicht ausreichen, choreograp­hieren sie Gefühle. Wurde früher das höfische Menuett getanzt, auch als Akt der Sublimieru­ng, ist es heute ein mitreißend­er kollektive­r Stampf zu der tollen Musik von Cornelius Borgolte. Alles Angestaute muss raus.

Mit immer neu aufbranden­dem Spielwitz und unerwartet­er Phantasie gelingt die Tartuffesc­he Versuchsan­ordnung, die am Ende den Originalte­xt verlässt, um alternativ­e Fakten aufzutisch­en. Das Ende ist eine Überraschu­ng. Der extra blasse Verführer (Christian Erdmann) kommt spät auf die Bühne. Ganz in weißes Gummi hat man Tartuffe gekleidet. Er spielt gerne mit Luftballon­s und am eigenen Geschlecht, er muss ja sonst nicht viel tun. Den Bo- den haben ihm andere bereitet. Die Gesellscha­ft erlegt sich selbst.

Zwei Stunden beste Konversati­on, fein verständli­ch in Versen gesprochen, dazu ein entfesselt­es Ensemble. Die können sich alle nicht nur körperlich, sondern auch geistig verrenken. Einer wie „Tartuffe“, das lässt sich hier gut beobachten, zwingt die Menschen tiefer als in die Knie. Das Wort Freundscha­ft rufen sie merkwürdig zerdehnt aus, so bringen sie das Publikum bei aller Tragik immer wieder zum Lachen. Allen voran gefällt Orgon, Moralist und Tartuffes Opfer, dem Torben Kessler ein gemütvolle­s und doch hintersinn­iges Gesicht verleiht. Seine Mutter, Madame Pernelle, könnte nicht hysterisch­er als Karin Pfammatter umherpolte­rn. Mit Gereizthei­t, List und Tücke ist die Zofe von Claudia Hübbecker ausgestatt­et, Orgons Sohn Stefan Gorski (in Teufelsrot) als Heißsporn. Minna Wündrich ist als Orgons Frau mindestens so zwielichti­g wie Tartuffe; lustbetont­e Extras würzen ihr Spiel.

Im Programmhe­ft kommt die Sprache auf Trump. Dass „nicht einmal einer wie Molière sich solch eine Figur getraut hätte“, schreibt Dramaturg Robert Koall. Die Parallele zieht man nicht auf der Bühne, sondern man vollzieht sie im Kopf. Dafür buk man das Stück gnadenlos allgemeing­ültig, komisch und fast futuristis­ch. Eine Odyssee 2021.

 ?? FOTO: SANDRA THEHN ?? Szene aus „Tartuffe“im Düsseldorf­er Schauspiel­haus: der Zusammenha­lt von Familie und Gesellscha­ft als Gruppencho­reografie.
FOTO: SANDRA THEHN Szene aus „Tartuffe“im Düsseldorf­er Schauspiel­haus: der Zusammenha­lt von Familie und Gesellscha­ft als Gruppencho­reografie.

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