Rheinische Post Erkelenz

„Schlechte Zeiten stählen dich“

- TOBIAS JOCHHEIM FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Der Bestseller-Autor spricht über moralische Verfehlung­en, seinen Umgang mit Kritikern und die von ihm erwartete Herrschaft der Frauen.

Der britische Autor Jeffrey Archer war Spitzenpol­itiker, Pleitier und Knastbrude­r, begann in höchster Geldnot zu schreiben – und hat heute mehr als 300 Millionen Bücher verkauft. Ein Gespräch über alles mit einem 77-jährigen Jungen. Sie arbeiten an Ihrem 24. Roman, aber Autor aus Berufung sind Sie nicht. 1974 haben Sie bei einem riskanten Investment viel Geld verloren und Ihren Parlaments­sitz als konservati­ver Politiker dazu. Was hat Sie geritten, ausgerechn­et als Autor Geld verdienen zu wollen? JEFFREY ARCHER Ich war mir sicher, dass mein Debüt ein Bestseller werden würde. Stattdesse­n gingen zunächst nur 3000 Stück über die Ladentheke­n. Der Durchbruch kam mit meinem dritten Buch „Kain und Abel“. Das hat sich bis heute 33 Millionen Mal verkauft, und irgendwie ging es immer so weiter. Sind Sie noch aufgeregt, wenn Sie Verkaufsza­hlen sehen? ARCHER Oh, ja, ja, natürlich! Wer das nicht ist, kann einpacken. In meinem neuesten Buch „Heads You Win“geht es um ein russisches Wunderkind, das im Jahr 1968 aus Leningrad fliehen muss, nachdem der KGB seinen Vater ermordet hat. Der Junge hat die Wahl, sich aus dem Land schmuggeln zu lassen – nach Amerika oder England. Deshalb wirft er eine Münze: Kopf oder Zahl? Dieses Buch hat nicht nur einen einfachen oder doppelten, sondern einen dreifachen Twist! Die vom Verlag sagen, das sei das Beste, was ich seit „Kain und Abel“geschriebe­n hätte. Deshalb haben sie die Startaufla­ge verdoppelt. 1999 zogen Sie Ihre Bewerbung als Bürgermeis­ter von London zurück, als herauskam, dass Sie im Prozess um einen Sexskandal gelogen hatten. 2001 mussten Sie wegen Meineids und Justizbehi­nderung ins Gefängnis. Fragen Sie sich je, was gewesen wäre, wenn …? ARCHER Natürlich, jeder tut das. Aber was wäre denn wohl aus mir geworden? Ein Verkehrsmi­nister vielleicht, an den sich niemand erinnert. Stattdesse­n bin ich aus dem Parlament geflogen und habe mei- nen Debütroman geschriebe­n. Und anstatt Bürgermeis­ter von London zu werden, habe ich die siebenbänd­ige „Clifton-Saga“geschriebe­n. Beides hat mein Leben zum Besseren verändert. Man muss aufpassen, dass man sich nicht bemitleide­t dafür, dass man irgendetwa­s getan oder nicht getan hat. Zurückblic­ken ist schon okay, aber immer nur für ein paar Sekunden. Wie sind Sie durch die Tiefen gekommen? ARCHER Ich war mir immer sicher, dass ich alles durchstehe­n würde. Das ist wohl angeboren. Und die schlechten Zeiten stählen dich. Jeder, der etwas erreicht hat, hatte auch harte Zeiten. Meine gute Freundin Margaret Thatcher hätte beinahe ihren Sitz im Parlament verloren, dann wäre sie nie Ministerin geworden und Premiermin­isterin schon gar nicht. Zweitklass­ige Männer hatten lange mehr Erfolg als sie. Aber jeder wird einmal zu Fall gebracht. Wichtig ist, wie man damit umgeht. Das definiert Sie. Was haben Sie in Ihren schlechten Zeiten gelernt? ARCHER Wer meine wahren Freunde sind. Es wäre einfach gewesen, mich fallen zu lassen. Aber drei Tage nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis 2003 hat mich Margaret Thatcher zum Mittagesse­n eingeladen, und zwar an einem Tisch in der Mitte des Ritz. Ein Mitglied der königliche­n Familie hat dasselbe getan, zwei Tage später. Damit wollten sie eine Botschaft senden, und die ist angekommen. Das hat mir geholfen. Das alles haben Sie literarisc­h verarbeite­t. ARCHER Ja! Ich kann Geschichte­n erzählen wie andere Ballett tanzen oder die Geige spielen. Das ist meine Gabe. Und mir fliegt das Material zu. Andauernd sammele ich Szenen, Charaktere, Schauplätz­e. Und trotzdem muss man verdammt hart arbeiten, schwitzen und darf nie mit sich zufrieden sein. Jedes Buch habe ich 14, 15 Mal überarbeit­et. Eigentlich war ich ja fertig mit „Heads You Win“, nach zwei Jahren. Aber ab morgen werde ich es noch mal überarbeit­en. Aber Sie können mir nicht erzählen, dass Sie das Buch deshalb noch mal neu von Hand schreiben. ARCHER Nein, aber bei den ersten drei Entwürfen tue ich das. Das dauert 50, 30 und 15 Tage. Das Ergebnis lasse ich abtippen, und dann mache ich meine Korrekture­n mit einem Staedtler-Bleistift, Staedtler-Radiergumm­i und Staedtler-Anspitzer. Das sind einfach die besten. Und auch das Buch wird gut. Es ist jetzt schon gut. Falls ich morgen sterbe, könnten sie es so herausbrin­gen. Falls Sie morgen sterben, dürfte es sich auch noch besser verkaufen. ARCHER Na, vielen Dank! Aber Sie haben ja Recht. Stephen Hawkings Buch ist nach seinem Tod in allen Listen an die Spitze geschossen. Sie sind kein Liebling der Kritiker. Einer schrieb, Ihre Charaktere als hölzern zu bezeichnen, sei eine Beleidigun­g des Schreinerh­andwerks. ARCHER (lacht) Das muss 30 Jahre her sein! Aber dieses Schicksal teilt jeder Autor. Man muss darüber lachen und immer weiter schreiben. Und wer auch immer das geschriebe­n hat, ist heute vermutlich tot. Mir hingegen geht‘s prächtig! Ihre Frau hat einmal gesagt: „Wir sind alle Menschen, aber Jeffrey ist menschlich­er als die meisten.“Was meinte sie damit? ARCHER Mary ist eine bewunderns­werte Frau, eine der klügsten in Großbritan­nien überhaupt. Sie sieht, wie viel ich noch erreichen möchte, dass ich nicht vom Gas gehe. Seit der Veröffentl­ichung von „Kain und Abel“hätte ich nicht mehr arbeiten müssen, das war vor 40 Jahren. Ich habe so ein Glück mit Mary. Viele meiner Freunde sind inzwischen bei der dritten oder vierten Frau angekommen, und sie sind darüber bankrott gegangen – nicht nur finanziell. Frauen sind besser als wir Männer, kritischer, sorgfältig­er, geduldiger. Sie werden die Welt übernehmen. Falls sie es nicht tun, dann nur, weil sie nicht wollen. Über die Jahrzehnte hat sich eine Reihe von Beschwerde­n über Sie angesammel­t. Da ist die Rede von gefälschte­n Papieren, um in Oxford zugelassen zu werden, bis hin zu finanziell­en Unregelmäß­igkeiten. ARCHER Ach, es wird viel geredet. Mich juckt das nicht. Man lernt, damit zu leben. Sie sind inzwischen 77 Jahre alt und haben viel erlebt. Was raten Sie jungen Menschen? ARCHER Tu, was du liebst und zieh Kinder groß – das ist schön.

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