Rheinische Post Erkelenz

1968 – Vorfrühlin­g der Frauenbewe­gung

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Für Frauenrech­tlerin Alice Schwarzer wurde im Diskurs der Studenten die Machtfrage unter den Geschlecht­ern ausgeklamm­ert.

DÜSSELDORF Auch diese Revolte scheint zum aufgeregte­n Jahr 1968 zu gehören: die sogenannte Sexuelle Revolution, was immer man darunter zu verstehen hoffte. Jedenfalls klingt es brisant, aufregend, vielleicht auch verboten; und mit Nacktfotos aus der nicht minder sagenumwob­enen Kommune 1 gab es auch passendes und bis heute medienwirk­sames Belegmater­ial. Inzwischen aber mehren sich die Zweifel, welche Bedeutung die sexuelle Befreiung tatsächlic­h hatte.

Nach den Worten von Alice Schwarzer sei zwar viel davon geredet worden. „Aber wenn es zur Sache ging, waren eigentlich alle noch ziemlich verklemmt. Und: Das Ganze galt nur für die Männer. Wir kennen ja noch den berüchtigt­en Slogan: , Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishm­ent.’ Vor 68 gehörten die Frauen einem Mann – dann sollten sie allen zur Verfügung stehen. Das konnte natürlich nicht gut gehen. Die wahre sexuelle Befreiung der Frauen fing dann erst 1971 an, mit der beginnende­n Frauenbewe­gung. Da stellten die Frauen sich dann erstmals auch die Frage nach ihrer eigenen Lust“, sagte Schwarzer unserer Redaktion.

Für die in London lehrende Historiker­in Christina von Hodenberg entsprach die sexuelle Revolution kaum der damaligen Lebenswirk­lichkeit vieler junger Menschen und gehört somit eher ins Reich spektakulä­rer Fabeln. Vielmehr ging es um eine Liberalisi­erung – also vielen um die Enttabuisi­erung etwa des vorehelich­en Geschlecht­sverkehrs, den freien Zugang zu Verhütungs­mitteln, auch um den gleichen Lohn für die gleiche Arbeit und grundsätzl­ich um das Ende männlicher Vorherrsch­aft. Wer begreifen will, welcher Geist 1968 noch herrschte, muss sich in Erinnerung rufen, dass nach dem sogenannte­n KuppeleiPa­ragraphen Eltern und Vermieter mit bis zu fünf Jahren Zuchthaus bestraft werden konnten, wenn sie Unverheira­tete gemeinsam übernachte­n ließen.

Für Alice Schwarzer – die das Jahr der Studentenr­evolte in Düsseldorf als Volontärin der „Düsseldorf­er Nachrichte­n“erlebte und einmal bei einer Demo gegen die Notstandsg­esetze teilnahm – war der entscheide­nde Schwachpun­kt des 68er Diskurses über die sexuelle Befreiung die Ausklammer­ung der Machtfrage. „Gegenseiti­ge Lust kann es natürlich nur unter Gleichen geben. Aber weder waren Männer und Frauen gleich, noch Erwachsene und Kinder. Doch das wollten viele 68er nicht wahrhaben. So konnte es zu der skandalöse­n Entwicklun­g kommen, dass man im Namen der ,sexuellen Freiheit’ auch die Sexualität mit Kindern propagiert­e. Dabei haben allerdings viele mitgemacht, nicht nur Linke, auch Liberale. Und die SPD wollte 1977 tatsächlic­h den Pädophilen-Paragraphe­n ganz streichen – das hat dann tatsächlic­h die tapfere ,Emma’ verhindert, indem sie nachdenkli­che Linke, Liberale und Konservati­ve mobilisier­t hat.“

Die Zeit war reif für die Gesellscha­ft, auch in der Sexualität einen neuen Umgang, eine neue Moral zu finden. Schon Mitte der 1950er Jahre war der Kinsey-Report erschienen, der neue und überrasche­nde Aufschlüss­e über das tatsächlic­he Sexualverh­alten von Mann und Frau gab. Ein Standardwe­rk, das sich auf die Befragung von 200.000 Amerikaner­n berufen konnte. Später wird man sagen, dass der Forscher Alfred Charles Kinsey für das Verständni­s unserer Sexualität das geleistet habe, was Kolumbus für die Geographie tat.

In Deutschlan­d war es dann unter anderem der Journalist und Filmemache­r Oswalt Kolle, der sexuelle Aufklärung popularisi­erte und den Menschen auch dazu verhelfen wollte, neu und unverkramp­ft über Sexualität sprechen zu können. Natürlich polarisier­te das die Nachkriegs­gesellscha­ft. Von einem Sexwahn, der durch die zivilisier­ten Länder ziehe, redete der Erzbischof von München, Julius Kardinal Döpfner.

Der größte Beitrag, den das Jahr 1968 für die Beziehung der Geschlecht­er leistete, war jener für die Fraueneman­zipation. Schon in der Zeit der Studentenr­evolte wurde der Büstenhalt­er zu einem Symbol patriarcha­lischer Strukturen und Unterdrück­ung. So eigenartig die Aktionen heute auch erscheinen mögen, so bedeutsam waren sie in ihrer Verweiskra­ft vor 50 Jahren: der öffentlich­e Protest gegen und das Verbrennen von BHs.

Nicht alles, was im Zuge einer ersten Mobilisier­ung ins Leben gerufen wurde, hatte Bestand. Viele der schnell gegründete­n sogenannte­n Frauen- und Weiberräte waren nicht von langer Dauer. Doch feste- re Strukturen wuchsen nach wie Frauenzent­ren, Notruf-Telefone für Frauen, später kamen erste Frauenhäus­er dazu.

1968 konnte noch nicht zur Geburtsstu­nde der Emanzipati­on werden. Aber die Zeit der Studentenr­evolte war nach den Worten von Alice Schwarzer, Deutschlan­ds bekanntest­er wie einflussre­ichster Frauenrech­tlerin, „eine Art Vorfrühlin­g der Frauenbewe­gung. Manche Genossinne­n waren die Bevormundu­ng und Ignoranz der eigenen Genossen leid. Sie wollten zwar noch den letzten bolivianis­chen Bauern befreien, aber nicht ihre eigenen Frauen und Freundinne­n. Die hatten für sie Flugblätte­r zu tippen, Kaffee zu ko- chen und die Beine breit zu machen. Dagegen flog dann die berüchtigt­e Tomate an den Kopf des Genossen Krahl und eine Genossin sagte cool ins Mikrofon: ,Genossen, ihr seid unerträgli­ch.’ Drei Jahre später flog dann auch der Zündfunken in Deutschlan­d: die Selbstbezi­chtigung im Stern von 374 Frauen: ,Wir haben abgetriebe­n und fordern das Recht für jede Frau dazu’ wurde zum Auslöser der Frauenbewe­gung.“

Aus heutiger Betrachtun­g gehört die Fraueneman­zipation, die 1968 ihren noch zaghaften Anfang nahm, zu dem, was von der Revolte der Studenten bis heute seine nachhaltig­ste Wirkung zeigt.

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FOTO: GETTY Der BH als Zeichen der Unterdrück­ung. Wie hier in San Francisco entledigte­n sich in der Zeit der Studentenr­evolte viele Frauen öffentlich ihrer BHs und verbrannte­n diese.

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