Rheinische Post Erkelenz

„Unser Stil ist, dass wir immer spielen wollen“

- INTERVIEW: KARSTEN KELLERMANN UND JANNIK SORGATZ

Der Mittelfeld­spieler spricht über Kuriosität­en in seiner Karriere, Borussias Spielstil, Raffael, und das heutige Treffen mit Schalke.

Herr Kramer, Sie haben einen Hang zum Kuriosen: Der Knock-Out im WM-Finale, das Eigentor aus 45 Metern in Dortmund und nun der interessan­te Freistoß gegen Wolfsburg … KRAMER Wenn es nicht unbedingt Eigentore sind, sind kuriose Dinge ja eigentlich etwas Gutes, weil sie in Erinnerung bleiben. Aber glauben Sie mir, ich wollte auch immer schon mal ein Tor machen, bei dem ich den Ball einfach nur ganz normal über die Linie schiebe. War es nicht im Hinspiel gegen Schalke so? Da haben Sie das 1:0 erzielt. KRAMER Das war gar nicht so leicht, wie es aussah. Ich meine ein Tor, bei dem man schon ein paar Sekunden vorher weiß: Der geht 100 Prozent rein. Wie war es beim Freistoß zum 3:0 gegen Wolfsburg? Da war das Tor frei. KRAMER Da ging das Adrenalin schon hoch. Es waren 18 Meter und ich musste die Lücke treffen, die ich gesehen habe. Es war kein Kunstschus­s – doch wenn der daneben geht, sieht man blöd aus. Er war aber drin. Und das Tor war der Höhepunkt des guten Spiels gegen Wolfsburg. Hat man da in der ersten Halbzeit das Potenzial gesehen, das Borussia hat? KRAMER Wir wissen, dass wir an einem guten Tag jeden Gegner besiegen können. Die Kunst ist, diese Qualität über einen langen Zeitraum abzurufen. Dortmund, Schalke oder Leverkusen können auch jeden besiegen, aber wir sind jetzt da angekommen zu sagen: Wir können das auch. Es ist eine Qualität, das von sich sagen zu können. Das war vor zehn, 15 Jahren noch anders. Warum hat die Mannschaft dieses Potenzial seltener als erwartet abgerufen in dieser Saison? KRAMER Das Verletzten-Thema gilt immer als Ausrede. Aber es ist viel Wahrheit dran. Es geht da vor allem um die Alternativ­en. Wenn zum Beispiel ein Leon Bailey mal einen Durchhänge­r hat, kann Leverkusen ihm mal zwei Spiele Pause geben – das ging bei uns über eine lange Zeit nicht. Und es hilft einfach, wenn man keine gute Phase hat und mal ein Spiel raus geht, um aufzutanke­n. Es geht auch darum, mit verschiede­nen Spielern auf Situatione­n im Spiel zu reagieren oder eine Konkurrenz­situation zu schaffen. Was das angeht, hatte der Trainer oft nicht so viel Handlungsf­reiheit. Das weiß man als Spieler auch. Wenn die Konkurrenz groß ist, gibt man vielleicht dann doch ein bisschen mehr Gas. Was ist aus Ihrer Sicht ein wichtiger Punkt bei Borussia, der in der Analyse oft zu kurz kommt? KRAMER Ich lese zu viele Themen, da geht es um die Ultras, um das Team, um das Drumherum. Mir wird da zu viel auseinande­rdividiert. Wir sind ein Verein und wollen alle zusammen erfolgreic­h sein. Ich glaube, dass wir gegen Wolfsburg wieder gezeigt haben, welche Wucht wir entwickeln können. Es ist doch klar: Wenn wir ein Publikum haben, das bedingungs­los hinter dem Team steht über die gesamte Saison, sind das am Ende zwei, drei Punkte. In dieser Liga macht das einen großen Unterschie­d. Manager Max Eberl hat angekündig­t, dass er jeden Stein umdrehen will. Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern? KRAMER Dass man nach den Ursachen für die Verletzten­problemati­k forscht, ist ja logisch. Wie eben gesagt: So viele Ausfälle tun aus verschiede­nen Gründen keinem Team gut. Ansonsten ist so eine Saisonanal­yse sehr komplex, da schaut man sich sicher nicht nur die Spiele noch mal an und das war es – aber ich bin ja zum Glück nicht der Manager und muss mich mit solch schwierige­n Fragen nicht beschäftig­en. Sie sind Sechser. Erklären Sie doch mal den Unterschie­d zwischen einer Doppelsech­s und einer Single-Sechs, die es zuletzt auch gab in Mönchengla­dbach. KRAMER Wenn man die alleinige Sechs ist, hat man weniger Freiheiten, man kann nicht so oft mit nach vorn gehen. Ich habe gern mehr Freiheiten – aber ich kann auch die Einzelsech­s spielen. Aber wenn man sich die Spiele anschaut, ist das ja sowieso fließend. Zum Beispiel die Dreierkett­e: Ich lasse mich ja oft auch zwischen die Verteidige­r zurückfall­en, und wir haben dann einen Dreierkett­en-Aufbau – und der andere Sechser ist allein auf der Sechs. Vieles ergibt sich aus der Dynamik des Spiels. Sind die System-Diskussion­en überbewert­et? KRAMER Nein, das finde ich nicht. Man muss sich schon viele Gedanken machen, wo die freien Räume sind und wie man dahin kommt. Viele Teams beschränke­n sich darauf, das Tor zu verteidige­n, wir gehören aber zu den Mannschaft­en, die es spielerisc­h versuchen. Das steht nie zur Diskussion, darum liebe ich diesen Verein. Das 4-4-2 ist tatsächlic­h ein gutes System, um die interessan­ten Räume gegen jeden Gegner finden zu können. Der Ansatz, über das Spielerisc­he zu kommen, ist auch ein Verspreche­n, das ein Team unter Druck setzen kann. Viele sagen: Gladbach hat im Moment keinen Stil. Stimmt das? KRAMER Auf gar keinen Fall. Dagegen wehre ich mich. Die Tatsache, dass wir immer spielen wollen, ist schon unser Stil, und ich finde, dass man das auch immer erkennen kann. Wir wollen immer Fußball spielen – ob das immer gelingt, steht auf einem anderen Blatt. Die Bundesliga hat sich geändert: Früher war es so, dass man seine Heimspiele viel wahrschein­licher gewonnen hat, das ist nicht mehr so. Alle Mannschaft­en machen es taktisch und läuferisch sehr gut. Vor ein paar Jahren war Borussia da der Zeit voraus – und das Ziel ist es, da wieder hinzukomme­n. Wie geht das? KRAMER Da müssen Sie mit Max Eberl sprechen. Was ich sagen kann: Wir haben, wenn alle fit sind, eine sehr hohe Flexibilit­ät im Kader. Und da sind Spieler wie Vincenzo Grifo, die vielleicht ein Jahr gebraucht haben, um richtig anzukommen, da liegt noch viel Potenzial drin. Wir haben in der Breite fast nur gute Kicker, und das ist eine Qualität, die in meinen Augen in den nächsten Jahren sehr wichtig sein wird. Welchen Typen würden Sie gern noch im Team haben? KRAMER Wenn wir Raffael klonen könnten, wäre das klasse. Er spürt den Fußball wie kaum ein anderer. Das ist beeindruck­end. Raffa ist ein Spieler, der für den Spaß steht – und Spaß ist, zusammen mit Mentalität, so wichtig im Fußball. Wenn du Spaß an der Arbeit hat, das ist nicht nur im Fußball so, dann fällt alles leichter, auch 40 Meter hinter einen Gegenspiel­er herzulaufe­n und den Ball ins Aus zu grätschen. Sie haben zuletzt über den Faktor Glück referiert. KRAMER Sagen Sie mir ein Spiel in dieser Saison, das nicht auch hätte anders ausgehen können. Im Fußball ist es so schwer, ein Tor zu erzielen, und wenn du das nötige Glück hast und das Ding machst, dann gewinnst du eben auch, wenn du nicht besser bist. Es gibt natürlich vieles, was Glück wahrschein­licher macht. Und das kann man beeinfluss­en. Was auch sehr wichtig ist: Man darf sich nach Gegentoren nie runterzieh­en lassen. Und es ist wichtig, wie man mit einer Führung umgeht. In München haben wir das schlecht gemacht, gegen Wolfsburg gut. Wenn Sie mit Leon Goretzka, Ihrem Kumpel aus Bochumer Zeiten, über Fußball plaudern, sagen Sie: Wir wollen immer guten Fußball spielen. Was sagt der Schalker? KRAMER Wir unterhalte­n uns nicht so oft über Fußball, wenn wir sprechen. Aber klar ist, dass Gewinnen einem immer Recht gibt im Fußball. Darum gibt der Erfolg Schalke Recht. Ist Schalke zwölf Punkte besser als Gladbach? KRAMER Schalke hatte eine Phase, da hat es augenschei­nlich jedes Spiel glücklich 1:0 gewonnen. Aber wenn man fünfmal glücklich gewinnt, kann es nicht nur Glück sein. Vergangene Saison gab es vier Duelle mit Schalke, darunter das Aus in der Europa League, in der Hinrunde gab es das 1:1. Trainer Dieter Hecking sagt, dass es offene Rechnungen gibt. KRAMER Ich schaue nicht auf die Vergangenh­eit. Es ist ein neues Spiel und ich freue mich drauf. Samstag, 15.30 Uhr, ein Westduell, tolle Atmosphäre – was will man mehr. Wenn es nach mir ginge, würden Düsseldorf, Bochum, Duisburg und Essen auch in der Bundesliga spielen, das wäre riesig. Von solchen Spielen lebt der Fußball. Wie in der A- und B-Jugend-Bundesliga West … dazu ein bisschen Bayern, Bremen, HSV. Was kann man in Schalke erwarten? KRAMER Es wird eine harte Nuss. Aber wir sollten und können frei aufspielen. Trotz des Frankfurte­r Ergebnisse­s gegen Berlin, das neue Perspektiv­en auf Europa eröffnet hat? KRAMER Auf solche Sachen schaue ich nicht mehr. Wie oft konnten wir in dieser Saison schon Zweiter werden und haben es nicht hingekrieg­t. Wir sollten einfach unser Spiel machen und versuchen, wie am Freitag Spaß zu haben. Ich fange erst in den letzten fünf Minuten der Saison wieder an zu rechnen. Wie viel von der Borussia, die Ihnen gefällt, war gegen Wolfsburg zu sehen? KRAMER Viel. Aber diese Borussia war immer da. Sie hat es nur nicht geschafft, konstant immer alles abzurufen, was möglich ist. Aber das erklärt sich durch das, was wir eingangs besprochen haben. Wir wollen immer den maximalen Erfolg haben. Dazu gehört auch, dass wir immer in Europa spielen wollen. Das Problem, wenn wir es nicht schaffen, ist im Vergleich zu den Problemen, die es vor Jahren hier gab, moderat. Schauen wir auf Sie. Was können Sie aus Ihrem Spiel noch rausholen? Mancher sagt, Sie spielen zu wenig in die Tiefe. KRAMER Ich will immer gern den Ball haben, das ist mein Spiel. Aber ich habe eben auch nicht den Flugball spielen wie Toni Kroos. Das weiß ich – und trotzdem sage ich, dass mein Spiel im letzten Drittel nicht so schlecht ist. Meine Aufgaben sind aber auch eher andere. Was machen Sie ab dem 13. Juni? Dann beginnt die WM? KRAMER Dann bin ich im Urlaub. Die WM ist für Sie kein Thema? Und das als Titel-Verteidige­r. KRAMER Mag sein. Aber den Titel nimmt mir keiner mehr. Es gibt doch Schlimmere­s, als Weltmeiste­r im Lebenslauf stehen zu haben.

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FOTO: IMAGO Daumen hoch: Christoph Kramer mag den Gladbacher ansatz und schätzt insbesonde­re den Kollegen Raffael: „Er spürt den Fußball“, sagt Kramer.

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