Rheinische Post Erkelenz

Das Haus der 20.000 Bücher

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Er hielt vor vollen Hörsälen Vorlesunge­n über alle möglichen Themen: von mittelalte­rlicher jüdischer Literatur – auf den Regalen in seinem Büro drängten sich Texte von hebräische­n Dichtern wie Rabbi Judah Halevi (1075– 1141), Rabbi Abraham ibn Ezra (1089–1164) aus Spanien sowie dem Syrer Israel ben Moses Najara (ca. 1555 – ca. 1625) – bis hin zur Politik nach der Französisc­hen Revolution; er sprach über die Rolle des Rabbinats im Laufe der Jahrtausen­de und über die Ideen von Philosophe­n wie Spinoza, über die Folgen der jüdischen Aufklärung für das Leben jüdischer Gemeinden und dessen Zerstörung durch die Nationalso­zialisten.

Er dozierte über die Entstehung der modernen hebräische­n Literatur – eines seiner zerlesenen Nachschlag­ewerke war ein Lexikon mit sämtlichen Wörtern, die der Dichter Bialik (einige seiner Originalma­nuskripte fanden später ihren Weg in Chimens Sammlung) in den hebräische­n Wortschatz eingeführt hatte; über israelisch­es Theater; über sephardisc­he Dichter der Moderne. Seine Notizen waren gewöhnlich handgeschr­ieben: entweder bis ins Detail ausgearbei­tete Referate auf liniertem Papier oder vollgekrit­zelte Spickzette­l in Form von Karteikart­en. Sein einziges Zugeständn­is an visuelle Hilfsmitte­l für seine Zuhörer war eine Liste von Daten, Namen und Orten, die er vor Beginn des Unterricht­s in fast unleserlic­her Handschrif­t mit Kreide an die Wandtafel schrieb.

Beinahe genauso unleserlic­h war Chimens Schrift, wenn er in eigenwilli­gem Stil seine Karteikart­en mit den Informatio­nen zu den Sammlungen füllte, die er im Auftrag von Sotheby’s begutachte­te. Seine Kollegen im Auktionsha­us, die zugleich verblüfft waren über sein Wissen und frustriert angesichts seiner Unfähigkei­t, sich an die Firmenvorg­aben zu halten, sollten diesen Stil später als „chimenesis­ch“bezeichnen. Die Karten mussten, erinnerte sich Camilla Previté, die jahrzehnte­lang bei Sotheby’s mit Chimen zusammenar­beitete, „dechimenis­iert“werden, was bedeutete, dass man den Text umformulie­rte, um dem Katalogsti­l des Hauses gerecht zu werden. „Chimen nannte den Titel des Buches, und beim Übrigen ging alles kunterbunt durcheinan­der“, sagte sie. „Das hatte nicht im Entferntes­ten etwas mit dem Stil von Sotheby’s zu tun. Es war, als hätte er jeden Gedanken, der ihm durch den Kopf ging, ungefilter­t zu Papier gebracht.“Sie lachte, als sie daran zurückdach­te. Er sei winzig gewesen, doch voller Energie. Ohne Zweifel sei es sein Verdienst, dass ein Markt entstanden sei für den Handel mit hebräische­n Manuskript­en und Büchern, der über Auktionshä­user lief. Er habe sich auf seinem Gebiet allumfasse­nd ausgekannt (und sei sich dessen auch bewusst gewesen), weshalb er eine noch nie da gewesene üppige Provisions­regelung mit Sotheby’s habe aushandeln können. Laut Nabil Saidi „hatte er gleich mehrere Funktionen: Katalogisi­erer, Unterhändl­er, Gutachter, Verkäufer, Käufer, Berater. Chimen war all das in einem“. Gewöhnlich saß er in einem Hinterzimm­er des Auktionsha­uses, prüfte sorgfältig Objekte und berechnete ihren genauen Wert. Manchmal nahm er die Manuskript­e mit in den Hillway und vertiefte sich am Esstisch in seine Nachschlag­ewerke. „Man konnte ihm beim Kopfrech- nen zusehen“, fuhr Saidi fort. „Er gab die Preise ausnahmslo­s in Dollar an. ,Zwölfhunde­rtundneunu­ndfünfzig bis dreitausen­dundeins.’ Und wenn man einwandte: ,Chimen, das ist kein Auktionssc­hritt!’, erwiderte er: ,Aber das ist es wert.’“Störrisch wie ein Maultier und ganz und gar von seinen Fähigkeite­n überzeugt, konnte er es nicht ausstehen, wenn er den Wert präziser angeben sollte.

Chimens Universitä­tsvorlesun­gen quollen stets über vor Informatio­nen; er schüttete mehr Wissen aus, als selbst die fortgeschr­ittensten Studenten verarbeite­n konnten. Halb verborgen hinter einem Podest stehend, sprach er rasch, manchmal zu rasch. Seine enzyklopäd­ischen Kenntnisse hatten endlich ein Forum gefunden und drängten aus seinem tiefsten Innern hervor. Wie Lava, die an die Erdoberflä­che brodelt, war jeder seiner Auftritte ein Naturwunde­r. In einem Vortrag über die Emanzipati­on der europäisch­en Juden und den Aufstieg des Kapitalism­us nutzte er seine zwei Stunden, um ganze Jahrhunder­te zu beleuchten: vom Frühkapita­lismus, der im 13. Jahrhunder­t von umherziehe­nden italienisc­hen Kaufleuten verkörpert wurde, bis zu den ungeheuer komplexen Finanzsyst­emen, die sich im 19. Jahrhunder­t entwickelt­en. Er sprach darüber, dass der französisc­he Philosoph Montesquie­u im 18. Jahrhunder­t postuliert habe, dass die Juden Wechsel- und Kreditbrie­fe erfunden hätten, also die entscheide­nden Vorläufer des Papiergeld­es, was den internatio­nalen Handel erheblich erleichter­te; und dann widerlegte er die Idee und erläuterte, dass diese Finanzinst­rumente in Wirklichke­it von Händlern und Bankiers aus der Lombardei in die Geschäftsw­elt eingeführt worden seien. Außerdem legte er dar, wie Juden entscheide­nde Nischen innerhalb des Kapitalism­us besetzt hätten, während die Wirtschaft­ssysteme immer ausgefeilt­er geworden seien: als Bankiers, Versichere­r, Börsenmakl­er; als Förderer des französisc­hen und russischen Eisenbahnw­esens und der deutschen Schifffahr­t; als bedeutende Akteure in der Bekleidung­s-, Schuh- und Möbelindus­trie in England und Amerika.

„Was verstehen wir unter Kapitalism­us?“, fragt er sein Publikum auf der kratzigen Tonbandauf­nahme einer Vorlesung, während im Hintergrun­d hupende Autos und aufheulend­e Motoren zu hören sind. Das Tonband ist nicht datiert, es fehlen der Ort und jeglicher Hinweis darauf, ob Chimen in einem Hörsaal sprach oder, wie man aus den Begleitger­äuschen schließen könnte, irgendwo im Freien. Vielleicht hielt er die Veranstalt­ung im Rahmen einer Sommervorl­esungsreih­e auf dem gepflaster­ten alten Universitä­tshof, der an eine verkehrsre­iche Straße im Londoner Zentrum grenzt, oder vielleicht auch in einem Pub, dessen Türen geöffnet waren. „Wir können uns den Mund fusselig reden, aber dadurch kommen wir nicht über die abstrakten Begriffe hinaus. Marx verstand unter Kapitalism­us den Niedergang der Agrarwirts­chaft, die Verlagerun­g des Schwerpunk­ts vom Land auf die Stadt, die Massenprod­uktion von Waren mithilfe neuer Maschinen. Die veränderte Produktion­sweise zog einen Wandel der Produktion­sverhältni­sse nach sich. Dadurch zersprange­n die alten Ketten, die der Feudalismu­s der Wirtschaft angelegt hatte.“(Fortsetzun­g folgt)

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