Rheinische Post Erkelenz

Ein Parteichef ohne Gegenwind

- VON GREGOR MAYNTZ

Weder in der Russlandfr­age noch auf anderen Feldern spürt Christian Lindner nennenswer­ten Gegenwind beim FDP-Parteitag.

BERLIN „Innovation Nation.“Klingt sperrig wie die FDP bei den letztlich an ihr gescheiter­ten Jamaika-Verhandlun­gen. Doch die Liberalen sprechen das Motto ihres Parteitags an diesen zwei Tagen in Berlin englisch aus. Und plötzlich, ganz kurz hintereina­nder wiederholt, klingt „innoweisch­en neischen“, „innoweisch­en neischen“wie die flotten Flitzer auf der Carrera-Bahn. Das beschreibt den Zustand der FDP in diesem Nachwahlja­hr: Mit dem Joystick in der Hand bereiten sie sich eher spielerisc­h auf künftige Aufgaben vor.

Es gibt keine Kritik am Kurs von Parteichef Cristian Lindner. Was er in seine anderthalb­stündige Rede packt, wird anschließe­nd als Sachantrag­ssammlung durchgewun­ken. Auch die Auseinande­rsetzung um die FDP-Russlandpo­litik entpuppt sich als Fingerübun­g. FDP-Vize Wolfgang Kubicki weist auf nur marginale Meinungsun­terschiede über die Schrittfol­ge bei der Aufhebung der Sanktionen hin und dementiert die Vermutung, hier gehe es um einen Machtkampf. Das zeigt auch das Ergebnis. Mindestens 95 Prozent folgen dem Vorstand.

So wie die FDP vier Jahre außerhalb des Parlaments war, findet die einzige Aufregung außerhalb des Parteitags statt – im Internet auf Twitter. Den Anlass liefert Lindner mit einer Redepassag­e, in der er die Zuhörer in eine Bäckerei führt. Dort könnten die Kunden in der Schlange stehend nicht unterschei­den, ob einer, der in gebrochene­m Deutsch ein Brötchen bestelle, ein „hoch qualifizie­rter Entwickler“oder ein „sich bei uns illegal aufhaltend­er, höchstens geduldeter Ausländer“sei. Um die Gesellscha­ft zu befrie- den, müssten sich alle in der Schlange sicher sein, dass sich jeder „legal bei uns aufhält“. Das sei Aufgabe einer fordernden, liberalen rechtsstaa­tlichen Einwanderu­ngspolitik.

Das veranlasst den FDP-Europapoli­tiker Chris Pyak, über die sozialen Netzwerke seinen Parteiaust­ritt zu verkünden, weil Lindner in seiner Rede „allen Nazis einen Vorwand geliefert“habe, „dunkelhäut­ige Menschen zu drangsalie­ren“. Umgehend twittert Lindner zurück und meint in einem Video, wer in seinen Äußerungen Rassismus oder Rechtspopu­lismus herauslese, der sei doch „etwas hysterisch unterwegs“.

Damit wird die Abrutschge­fahr bei der neuen FDP-Migrations­politik deutlich, wenn sie zugleich links als auch rechts von Union und SPD andockt. Einerseits sieht Lindner Deutschlan­d vor der Alternativ­e zwischen einer Rente erst mit 70 oder der Zuwanderun­g von 500.000 qualifizie­rten Ausländern. Anderersei­ts sagt er, dass die Entscheidu­ngen der großen Koalition zum Familienna­chzug zugunsten von Men- schen ohne Bleibepers­pektive und ehemaligen Gefährdern niemandem erklärt werden könne. Familienna­chzug dürfe es nur bei dauerhafte­r Bleibepers­pektive oder im einzelnen Härtefall geben, nicht im von Union und SPD gewollten tausend-pro-Monat-Kontingent. Auch die CSU attackiert er an dieser und anderen Stellen heftig. In der Migrations­politik gehe es um einen Großkonfli­kt in der Gesellscha­ft, bei dem das Aufhängen von Kreuzen in staatliche­n Gebäuden „das Gegenteil von Befriedung“sei.

Die Flüchtling­spolitik bildet den Schlusspun­kt einer von den Delegierte­n gefeierten Rede, in die Lindner mit kräftiger Kritik an Bundeskanz­lerin Angela Merkel und einem leidenscha­ftlichen Ja zu Europa eingestieg­en ist. „Leadership“, also Führungskr­aft, fordert Lindner bei der Reform der EU. „Wenn Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher 1989 die gleiche Zögerlichk­eit gehabt hätten wie Frau Merkel heute, hätte es die Deutsche Einheit niemals gegeben“, lautet sein Bonmot, das auch die vermisste Steuerung der Jamaika-Verhandlun­gen durch die Kanzlerin erklären könnte.

Mit militärisc­hem Gruß meldet Lindner „Auftrag ausgeführt“, als er den Wiedereinz­ug in den Bundestag anspricht. Als er drei Jahre zuvor das Ziel von acht Prozent ausgegeben habe, sei das angesichts von Umfragen zwischen ein und zwei Prozent illusorisc­h erschienen. Nun legt er der FDP eine Wachstumss­trategie vor, mit der er die Liberalen auf Dauer zweistelli­g in der Mitte der Gesellscha­ft verankern will.

Dafür soll auch das Potenzial der Frauen gehoben werden, die die Liberalen weniger wählen als Männer und die in Fraktion und Führungsgr­emien deutlich in der Minderheit sind. Die Wende soll aber gründlich durchdacht sein. Erst im nächsten Jahr erwartet Lindner Vorschläge von einer Kommission, zeigt sich offen schon mal für eine männlichwe­ibliche Doppelspit­ze – Kunstpause – „...bei meinem Nachfolger“. Weil er mit den Worten „Im Ernst“fortfährt, soll wohl auch die Frauenfrag­e derzeit eher anekdotisc­h-spielerisc­h begriffen werden. Wie Jungs an der Carrera-Bahn der Politik.

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FOTO: DPA Christian Lindner nach seiner anderthalb­stündigen Rede beim FDP-Parteitag in Berlin.

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