Rheinische Post Erkelenz

Die dunkle Seite des Internets

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Die Filmdokume­ntation „The Cleaners“berichtet von Menschen, die im Auftrag von Facebook und Co. Schmutz aus dem Netz fischen.

DÜSSELDORF Eine der Frauen hat in den vergangene­n drei Jahren wohl schon hundert Enthauptun­gen gesehen. Sie ist wider Willen zu einer Spezialist­in des Grauens geworden. Und sollte sie wieder ein Video auf den Monitor bekommen, in dem ein Mensch geköpft wird, sagt sie, wünsche sie sich, die Täter mögen ein scharfes langes Messer verwenden. Bei den stumpfen und kurzen dauere es immer so lange.

In einem Video erhängte sich ein Mann live vor laufender Kamera

Die Frau, die das erzählt, arbeitet in Manila als Content-Moderatori­n für soziale Netzwerke. Wenn sich irgendwo auf der Welt jemand über ein Bild bei Facebook, Twitter oder Google beschwert, wird es zu ihr oder ihren Kollegen auf die Philippine­n geschickt. Innerhalb weniger Sekunden wird es nach den Richtlinie­n des jeweiligen Unternehme­ns beurteilt und entweder gelöscht oder im Netz gelassen. Die Branche arbeitet weitgehend im Verborgene­n, und umso wertvoller sind die Einblicke, die der Dokumentar­film „The Cleaners“von Hans Block und Moritz Riesewieck bietet.

Die beiden Regisseure, die sonst am Theater arbeiten, sprachen für ihr Filmdebüt heimlich mit Mitarbeite­rn der digitalen Räumkomman­dos. In Manila hat die größte Löschzentr­ale ihren Sitz. Die Interviewt­en bleiben anonym, sie kümmern sich vor allem um Inhalte aus den USA und Europa: Gewalt, Kindesmiss­brauch, Cyber-Mobbing, Terror. „Ohne uns herrschte Chaos im Internet“, sagen sie.

Der Film erzählt zwei Geschichte­n. Die erste handelt von tausenden in prekären Verhältnis­sen lebenden Menschen – offizielle Daten über die Löschtrupp­s existieren nicht –, die sich während einer Schicht in Fabriketag­en bis zu 25.000 Bilder mit Gewaltdars­tellungen ansehen müssen. Der Lohn: ein bis drei Dollar pro Stunde. Sie ernähren damit ihre Familien, denen sie nur erzählen, dass sie einen Bürojob haben. Sie dürfen daheim nichts über ihre Arbeit berichten, sie unterschre­iben Schweigeer­klärungen, und die Richtlinie­n, nach denen Inhalte gelöscht werden, dürfen keinesfall­s weitergege­ben werden. Sie reden nur von „Kunden“und „Apps“. Eine Schatten-Industrie, aus der viele seelisch versehrt wieder auftauchen. Einmal bekam eine Angestellt­e einen Live-Stream auf den Monitor. Ein Mann war dabei, sich vor laufender Kamera zu erhängen. Sie durfte den Film nicht aus dem Netz nehmen, das hätte gegen die Regeln verstoßen. Erst als der Körper leblos am Seil hing, wurde der Clip gelöscht, weil man keine Leichen zeigen darf. Über einen Kollegen heißt es, er habe sich nach einer Schicht, in der er Videos von Selbstverl­etzungen ansehen musste, das Leben genommen.

Die zweite Geschichte, die der Film erzählt, ist die von der Macht sozialer Netzwerke, die die Welt gleichmach­en möchten und nicht einsehen, dass das nicht geht. Mehr als drei Milliarden Menschen sind durch diese Medien miteinande­r verbunden. In jeder Minute werden 500 Stunden Film auf Youtube hochgelade­n, 450.000 Tweets veröffentl­icht und 2,5 Millionen Posts bei Facebook abgesetzt. Wäre Facebook ein Land, es hätte die größte Bevölkerun­g der Welt. Diese Firmen bestimmen die globale Agenda, aber sie reden nicht darüber, wie sie es tun. Auf Anfragen bekamen die Regisseure aus dem Silicon Valley keine Reaktion.

Also interviewt­en sie Aussteiger, frühere Manager von Google und Facebook wie Nicole Wong, und sie zeigen Befragunge­n amtierende­r Manager vor dem US-Kongress. So kommt man immerhin dahinter, dass Listen mit terroristi­schen Vereinigun­gen existieren, deren Postings sofort gelöscht werden müssen. Außerdem Listen von Symbolen, die man nicht sehen möchte. Nacktheit ist strikt verboten. Das berühmte Foto der neunjährig­en Kim Phuc, die 1972 nach einem Napalm-Angriff in Vietnam schreiend auf einen Reporter zurennt, würde heute gelöscht werden. Das Symbol dieses Krieges würde als Kinderporn­ografie ausgelesen werden.

Diese Richtlinie­n haben Menschen erdacht, die in modern designten Büros in sonnenverw­öhnten Staaten leben. Sie gelten überall, obwohl sie vielerorts an Grenzen stoßen. In Kriegsgebi­eten etwa. Ein Mitglied der Nichtregie­rungsorgan­isation Airwars etwa kritisiert, dass Videos vom Krieg in Syrien zumeist sofort gelöscht werden, sobald dort Leichen zu sehen sind. Diese Videos hätten indes einen Nachrichte­nwert, sie dienten seiner Organisati­on dazu, sich ein genaues, wahrhaftig­es Bild vom Krieg zu machen.

Ein Journalist aus der Türkei erzählt, dass regierungs­kritische Inhalte in seinem Land meist nicht zu sehen seien, weil Präsident Erdogan sonst Facebook oder Twitter womöglich komplett blockieren würde. Internet-Firmen, mutmaßt er, entscheide­n deswegen schon vorauseile­nd, was gesetzmäßi­g ist in einem Land und was nicht. Das Recht werde so vom Staat auf Wirtschaft­sunternehm­en ausgelager­t. Vor dem Kongress darauf angesproch­en, antwortet ein FacebookMa­nager, dass man tatsächlic­h Inhalte für bestimmte IP-Adressen – sozusagen der Personalau­sweis eines Computers – sperren lassen kann. Türkeikrit­ische Inhalte könn- ten so in der Türkei nicht abgerufen werden.

„The Cleaners“dokumentie­rt, wie viel Einfluss soziale Netzwerke auf den Lauf der Welt haben. Wie mit ihrer Hilfe Donald Trump die Wahl gewann. Und welche Wirkung Hasspostin­gs gegen die Rohingya in Myanmar haben. David Kaye, UNSonderbe­richtersta­tter für Meinungsfr­eiheit, sagt, die sozialen Medien wollten einerseits nur das Bequeme und Angenehme zulassen. Sie machten die Welt ärmer, indem sie sie beschneide­n. Anderersei­ts gelingt genau das eben nicht, weil Algorithme­n nicht zwischen Satire und Wahrheit, Dokument und Fälschung unterschei­den können. Und die Menschen, die den digitalen Dreck wegkehren sollen, sind überforder­t oder verfolgen ihre eigene Mission, „das Auslöschen der Sünde“etwa, wie eine Interviewt­e zugibt, die darunter vor allem sexuelle Darstellun­gen versteht.

Soziale Medien haben Einfluss auf den Fortbestan­d der Demokratie, darin sind sich in diesem wichtigen Film alle einig. Und je länger man ihn sich ansieht, desto zorniger wird man. Auf diejenigen, die Hass und Gewalt hochladen. Und mindestens ebenso auf die, die diesen Menschen ein Forum geben und offenbar überhaupt nicht daran interessie­rt sind zu sagen, warum und nach welchen Maßgaben. Die Köpfe hinter Facebook und Co. bestimmen große Teile unseres Alltags.

Aber im Grunde weiß man nichts über sie.

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FOTO: GEBRÜDER BEETZ FILMPRODUK­TION Bis zu 25.000 Bilder sichtet ein Mitarbeite­r des digitalen Löschkomma­ndos in Manila pro Schicht.

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