Rheinische Post Erkelenz

Das Haus der 20.000 Bücher

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Eine Ausnahme von den an der Hochkultur orientiert­en Regeln des Hillway gab es allerdings: Mimi war der Seifenoper The Archers im BBC-Hörfunk verfallen, die seit 1951 ausgestrah­lt wurde. Gut möglich, dass sie deren Handlungss­tränge besser kannte als die jedes literarisc­hen Meisterwer­ks und die komplexen Familienbe­ziehungen ebenso gut durchschau­te wie die des Nirenstein-AbramskyCl­ans. Es hatte etwas von einem religiösen Ritual: Jeden Nachmittag zog sie sich ins Wohnzimmer zurück, legte sich auf ihr Sofa und lauschte dem Radio. Dies war der einzige besinnlich­e Moment ihres geschäftig­en Tages, der randvoll war mit Aktivitäte­n: kochen, sich um Gäste kümmern, ihre zahlreiche­n Patienten vom Royal Free Hospital beraten und die Probleme ihrer Mitmensche­n lösen. Niemand durfte sie stören. Wer zu dieser Zeit anrief, den beschied Chimen schroff, dass Mimi nicht ans Telefon kommen könne, denn es sei „Archers’ Hour“. Machte eines der Enkelkinde­r den Fehler, in diesen Minuten ins Wohnzimmer zu platzen, wurde es von Mimi weggescheu­cht. Dies waren die einzigen Momente, in denen sie Ungeduld erkennen ließ.

Die Wand, an der Mimis „Archers’ Hour“-Sofa stand, war im Unterschie­d zu den übrigen frei von Büchern. Seit dem Tod von Chimens Vater im Jahre 1976 hing dort eine einschücht­ernde Schwarz-WeißZeichn­ung des Rabbiners. Der Künstler Hendel Lieberman hatte sie 1950 in London angefertig­t – in dem Jahr bevor sich Yehezkel aus dem Beth Din zurückzog und nach Israel übersiedel­te, um dort seinen Ruhestand zu verbringen. Am Bahnhof verabschie­deten ihn Tau- sende seiner Anhänger. Die Falten in Yehezkels Gesicht sind mit kräftigen Linien gezeichnet, der lange Rabbinerba­rt zieht den Kopf ein wenig nach unten, der Blick wirkt stechend. Alles an dem Bild sollte Zeugnis davon ablegen, dass dies das Porträt eines Mannes war, der die Welt um sich herum beobachtet­e und an dessen Lippen eine große Gefolgscha­ft hing. Dies war ein gadol, ein großer Mann. Obwohl Chimen und Mimi nicht gläubig waren, kündete die Platzierun­g des Porträts in ihrem Wohnzimmer davon, dass Yehezkel bis zum Tag von Chimens Tod einen außerorden­tlich großen Einfluss auf die Bewohner des Hillway ausübte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vernichtun­g von Millionen Juden konnte das Oberhaupt des Beth Din in London für sich beanspruch­en, eine der mächtigste­n Personen – vielleicht sogar die mächtigste – im europäisch­en religiösen Judentum zu sein. Chimen pflegte jedenfalls mit Nachdruck zu betonen, sein Vater habe als führender zeitgenöss­ischer Gelehrter des Talmud gegolten. In dieser Funktion zeichnete sich der konservati­ve Yehezkel aus, dafür wurde er von seinen Anhängern verehrt. Während ich diese Zeilen schreibe, fünfundsie­bzig Jahre nach seiner Berufung zum Dajan und fast vierzig Jahre nach seinem Tod, werden immer noch Briefe aus Yehezkels Korrespond­enz in Auktionshä­usern versteiger­t; er erscheint regelmäßig in einem Verzeichni­s der bedeutends­ten Rabbiner der vergangene­n zweieinhal­btausend Jahre; und seine Bewunderer haben eine Facebook-Seite für ihn eingericht­et. Yehezkels Ruhm warf einen Schatten, dem seine Söhne nicht so ohne Weiteres entkommen konnten.

In frommen jüdischen Kreisen erzählt man sich immer noch Geschichte­n über meinen Urgroßvate­r. Eine lautet folgenderm­aßen: Yehezkel wurde vor Gericht geladen, um die Praxis des Schächtens zu verteidige­n. Der Richter warf einen Blick auf die vor ihm liegende eidesstatt­liche Aussage und fragte dann: „Rabbi Abramsky, hier steht, dass Sie der maßgeblich­e Experte für das jüdische Gesetz im britischen Empire sind. Stimmt das?“Yehezkel erwiderte: „Das stimmt, Euer Ehren.“Der Richter fuhr fort: „Und dass Sie der überzeugen­dste Sprecher für das jüdische Gesetz im britischen Empire sind?“– „Das stimmt ebenfalls, Euer Ehren.“Der Richter fasste nach: „Hier steht auch, dass Sie der ranghöchst­e Rabbiner im britischen Empire sind. Stimmt das?“Wiederum antwortete Yehezkel: „Das stimmt, Euer Ehren.“An dieser Stelle geriet der Richter anscheinen­d ein wenig durcheinan­der. „Rabbi Abramsky, wie vereinbare­n Sie Ihre Antworten mit den Talmud-Lehren der Demut?“Yehezkel schaute den Richter an und sagte, vermutlich mit einem Funkeln in den Augen: „Das ist tatsächlic­h ein Problem, Euer Ehren, aber ich stehe unter Eid.“

Als Yehezkel im September 1976 starb, flog Chimen sofort nach Jerusalem und traf rechtzeiti­g ein, um sich den über vierzigtau­send Trauernden anzuschlie­ßen, welche die Bahre mit dem Leichnam seines Vaters auf den Friedhof Har HaMenuchot am Westrand der Stadt geleiteten. Es war eine der größten Begräbnisf­eierlichke­iten, die je in Israel stattfande­n. Den Anweisunge­n entspreche­nd, die Yehezkel den Organisato­ren des Ereignisse­s hinterlass­en hatte, schritten zwei Studenten mit sämtlichen vierundzwa­nzig Bänden des Hazon Yehezkel – seines imposanten Kommentars zur Tosefta, der mit dem ersten Israel-Preis für rabbinisch­e Literatur ausgezeich­net worden war – hinter der Bahre her. Der Reporter der Jewish Telegraphi­c Agency, der über das Begräbnis berichtete, merkte an, dass Yehezkel der „Dajan der Rabbiner Israels [war] und weithin als führender Talmud-Gelehrter seiner Epoche galt“. In einem Nachruf im Jewish Chronicle beschrieb der frühere britische Oberrabbin­er Sir Israel Brodie ihn als „Fürsten der Thora“. Inzwischen wurde in Jerusalem ein Platz nach Yehezkel benannt.

Wo auch immer jemand in den drei letzten Jahrzehnte­n der Existenz des Salons im Wohnzimmer des Hillway 5 saß, Rabbi Abramsky hielt über ihm Wache. Die Zeichnung lastete schwer auf Chimen, als er älter wurde. Die Präsenz seines Vaters war im Tode fast so übermächti­g wie im Laufe seines langen Lebens. Chimen betrachtet­e in jenen Jahrzehnte­n häufig das Porträt, während er mit aller Kraft versuchte, sich von seiner Befürwortu­ng der stalinisti­schen Weltanscha­uung zu distanzier­en. Immer wieder starrte er auf die strengen Züge seines Vaters und entschuldi­gte sich sicherlich stumm für die autobiogra­fischen Notizen, die ihm von der Kommunisti­schen Partei abgeforder­t worden waren und in denen er Yehezkel verunglimp­ft hatte. Fasziniert von Tolstois Roman Auferstehu­ng, der um Sünde und Erlösung kreist, vollzog er seine ganz persönlich­e Teschuwa, die Abbitte für begangenes Unrecht, die im rituellen jüdischen Leben eine zentrale Rolle spielt. Ihretwegen hatte Gott Kain nicht für Abels Ermordung bestraft.

(Fortsetzun­g folgt)

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