Rheinische Post Erkelenz

Paris wird zum Flüchtling­scamp

- VON CHRISTINE LONGIN

Fast 3000 illegale Migranten leben in der französisc­hen Hauptstadt auf der Straße. Sie sind weitgehend sich selbst überlassen.

PARIS Wer an der Pariser Metrostati­on Jaurès aussteigt, hat schnell einen Uringeruch in der Nase. Er kommt von den fünf Dixi-Klos, die am Quai de Jemmapes gleich gegenüber stehen. Fünf Klos für rund 200 Flüchtling­e, die unterhalb der Straße am Ufer des Canal Saint-Martin in ihren bunten Iglu-Zelten hausen. Abdul ist einer von ihnen. Der Afghane steht mit einem Formular in der Hand vor einem weißen Zelt, in dem Helfer von Médecins sans Frontières die Flüchtling­e bei ihren Formalität­en beraten. „Ich will in Frankreich Asyl beantragen“, sagt der 32-Jährige mit der grauen Sweatshirt-Jacke und der Pony-Frisur auf Englisch.

Abdul spricht auch ein paar Brocken Deutsch, denn er arbeitete jahrelang als Betriebswi­rt für eine Firma, die die in Afghanista­n stationier­ten Nato-Truppen, darunter auch die Bundeswehr, mit Öl belieferte. Als sich die US-Truppen aus Afghanista­n zurückzoge­n, wurde das Leben für ihn dort gefährlich, denn die extremisti­schen Taliban bedrohten auch ihn. Deshalb floh er über den Iran in die Türkei. „Es war der 7. Juni 2015“, erinnert er sich an den Tag, an dem er seine im achten Monat schwangere Frau zurückließ.

Anderthalb Jahre lang hielt der Vater zweier Kinder sich in der Türkei auf, bevor er über Stationen in Bulgarien und Serbien schließlic­h nach Frankreich kam. Damit fällt er in die Kategorie, die man in Frankreich „Dublinés“nennt. Das sind jene Flüchtling­e, die laut dem Dublin-Abkommen eigentlich in ihr Erst-Einreisela­nd in der EU zurückgesc­hickt werden müssen. Doch Abdul, der sechs Sprachen spricht, will unbedingt in Frankreich bleiben. „Frankreich gibt Afghanen Asyl.“Er will noch einmal die Universitä­t besuchen, einen französisc­hen Abschluss machen und arbeiten. Und natürlich seine Familie nachholen.

Doch zuerst will er weg aus der Zeltstadt am hippen Canal SaintMarti­n, in der er seit zwei Monaten lebt. Zu essen bekommt er täglich von den Freiwillig­en der Hilfsorgan­isationen, aber die sanitäre Lage ist katastroph­al. Duschen gibt es nur eine halbe Stunde zu Fuß entfernt in einem öffentlich­en Bad. Am Quai de Jemmapes, wo die Ufermauern voller Graffiti sind, hängt die Wäsche über dem Zaun. Vor einigen Zelten stehen alte Stühle und Sessel vom Sperrmüll. Die Bewohner, ausschließ­lich junge Männer, sitzen darauf und dösen. Die Bilder erinnern an das Flüchtling­slager von Calais, das jahrelang der Schandflec­k Frankreich­s war, und das im Herbst 2016 geräumt wurde. „Paris – das neue Calais“, titelte die Zeitung „Le Parisien“vor einigen Wochen. Fast 3000 – noch nie haben in der Hauptstadt so viele Flüchtling­e auf der Straße gelebt. Und täglich kommen Dutzende hinzu.

Zwischen den Bewohnern der Camps kommt es immer wieder zu Prügeleien. Ein Afghane, der nicht schwimmen konnte, ist bereits im Canal Saint-Martin ertrunken. „Die Sicherheit und die Gesundheit der Menschen, die im Lager leben, aber auch der Helfer und der Anwohner ist nicht mehr garantiert“, heißt es in einer Petition mehrerer Hilfsorgan­isationen, die eine würdige Unterbring­ung für die Flüchtling­e fordern. „Die Lage ist brenzlig“, sagt Pierre Henry, der Leiter von France Terre d’Asile. „Die Leute hier werden einfach sich selbst überlassen.“Seine Organisati­on hat ihre Büros direkt neben dem Lager. „Achtung, dieser Ort muss ruhig und sauber bleiben“, steht auf einem DIN-A-4Zettel, der in einem der dreckigen Fenster des Gebäudes aus den 80er Jahren am Boulevard de la Villette hängt. „Kein Geschrei, keine Gewalt.“

Doch genau das bleibt nicht aus in den drei Lagern von Paris. Am Quai de Jemappes und an der Porte de la Chapelle zelten vor allem Afghanen, während in Aubervilli­ers im Norden der Hauptstadt vor allem Sudanesen und Eritreer hausen. Seit die einzige Erstaufnah­meeinricht­ung von Paris Ende März ge- schlossen wurde, haben sie keine Anlaufstel­le mehr. „Das sind fast alles Dublinés“, sagt Yann Manzi. Also Flüchtling­e, die irgendwo in Europa bereits erfasst wurden. Die Aufnahmeze­ntren, die der Staat überall im Land geschaffen hat, sollen ihre Identität feststelle­n und sie danach abschieben.

Manzi kritisiert den Kurs von Innenminis­ter Gérard Collomb scharf. „Er betreibt eine Politik der Nicht-Aufnahme. Er will zeigen, dass die Menschen hier schlecht behandelt werden, damit nicht noch mehr kommen.“Collomb, einst Sozialist, ist zum Falken geworden, der sich nicht scheut, das Vokabular des rechtspopu­listischen Front National zu übernehmen und vor einer „Überschwem­mung“des Landes mit Flüchtling­en zu warnen. Mit der Bürgermeis­terin von Paris, Anne Hidalgo, liefert Collomb sich einen Dauerstrei­t darüber, wer für die Flüchtling­smisere an der Seine verantwort­lich ist. Hidalgo besucht jede Woche das Lager Millénaire in Aubervilli­ers, in dem 1700 Menschen auf engstem Raum leben und kritisiert die unmenschli­chen Bedingunge­n. „Wir bewegen uns auf eine Katastroph­e zu“, warnt die Sozialisti­n, die in zwei Jahren wiedergewä­hlt werden will.

Doch Collomb beeilt sich nicht, an der prekären Lage etwas zu ändern. Sein Ministeriu­m kündigte zwar unlängst eine Evakuierun­g an, will dabei aber „administra­tive Kontrollen“vornehmen, um jeden ohne Asylanspru­ch abzuschieb­en. Der Innenminis­ter hat die rund 100.000 Asylbewerb­er im Hinterkopf, die Frankreich im vergangene­n Jahr registrier­te – 17 Prozent mehr als im Vorjahr. „Wir schicken zu wenige zurück. Wir lassen zu, dass Tausende sich in einem administra­tiven Niemandsla­nd niederlass­en“, kritisiert­e Präsident Emmanuel Macron im Herbst in einer Rede vor den französisc­hen Präfekten. Collomb wird noch deutlicher: Er spricht vom „Tri“, einem System des Aussortier­ens wie bei der Mülltrennu­ng. „Er will damit Frankreich­s Rechten zeigen, dass er die Flüchtling­e abschiebt. Das ist Wahlkampf“, bemerkt Manzi. „Der Zulauf beim Front National bringt die Regierung dazu, strenge Gesetze zu verabschie­den.“Gemeint ist das neue Asylrecht, das kürzere Einspruchs­fristen und eine längere Abschiebeh­aft vorsieht.

Gegen diese Politik der harten Hand setzt Manzi das Engagement seiner Organisati­on. Im Herbst 2015 gründete der Schaustell­er, der bei Musikfesti­vals die Unterbring­ung der Teilnehmer organisier­t, zusammen mit seiner Frau, seinem Sohn und zwei Freunden Utopia 56. Auslöser war das weltberühm­t gewordene Foto des toten Aylan Kurdi am Strand von Bodrum. In nur zweieinhal­b Jahren schlossen sich Manzis Graswurzel­bewegung 10.000 Mitglieder an, darunter auch Deutsche und Engländer. Allein in Paris sind täglich rund 150 Freiwillig­e im Einsatz, die Kleider sammeln, Essen verteilen und Wohnungen für Frauen und Kinder suchen. Ein Netzwerk von 200 Parisern ist bereit, die Schutzbedü­rftigen bei sich aufzunehme­n. „Je härter die Einwanderu­ngspolitik wird, desto mehr Freiwillig­e engagieren sich in Hilfsorgan­isationen“, sagt Jean-Claude Mas von der Organisati­on Cimade der Zeitung „Libération“.

Damit es noch mehr werden, begann die Cimade zusammen mit Utopia 56 und anderen Ende April in Ventimigli­a an der italienisc­hen Grenze einen Marsch durch das ganze Land. Bis nach Calais wollen die Teilnehmer wandern und dabei mit den Franzosen über die Probleme der Flüchtling­e sprechen. Eine schwere Aufgabe. Denn eine Umfrage im Februar ergab, dass zwar 65 Prozent für die Aufnahme von Flüchtling­en sind, aber 63 Prozent glauben, dass zu viele ins Land kommen. „Wir werden nicht von den Flüchtling­en überschwem­mt“, sagt Manzi. „Europa erlebt keine Flüchtling­skrise, sondern eine Krise der Aufnahme der Flüchtling­e“, ergänzt der Bretone. „Frankreich ist ein reiches Land, doch wir machen nicht einmal das Minimum.“

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FOTO: REUTERS Hunderte Flüchtling­e, fast ausschließ­lich Männer, hausen unter katastroph­alen hygienisch­en Bedingunge­n in Zelten am Quai de Jemmapes, mitten in einem der angesagtes­ten Viertel von Paris. Das Innenminis­terium und die Stadtverwa­ltung streiten sich seit...
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FOTO: AP Zeltlager von Flüchtling­en unter einer Brücke in Paris.

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