Rheinische Post Erkelenz

Warum der ganze Krach?

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Eigentlich sind sich CDU-Kanzlerin und CSU-Innenminis­ter in 62 von 63 Punkten einig. Doch der eine hat das Potenzial, die Unionsfrak­tion, die Koalition und die Bundesregi­erung zu sprengen.

überhaupt weitergehe­n. Denn ohne Kontrolle keine Zurückweis­ung. Welche Wirkung hätte es in Europa, wenn es zu Zurückweis­ungen käme, wie Seehofer es will? Ginge es um Zehntausen­de von Flüchtling­en, wie zu den Hochzeiten 2015, könnte es zu schlimmen Zuständen und zu einem nur schwer handhabbar­en „Rückstau“an der österreich­isch-deutschen Grenze und entlang der Balkan- und Mittelmeer­route kommen. Tatsächlic­h aber wären täglich nur wenige Dutzend Fälle zu entscheide­n. Innenexper­ten rechnen sogar damit, dass sich das größere Risiko, zurückgewi­esen zu werden, schnell unter den Betroffene­n herumsprec­hen würde und diese dann die Kontrollst­ellen meiden, über die grüne Grenze oder andere unkontroll­ierte Abschnitte ausweichen könnten. Merkel befürchtet als Folge, dass andere Länder ebenfalls einseitige nationale Maßnahmen ergreifen. Dem will sie mit dem Kompromiss­vorschlag entgegenwi­rken, Zurückweis­ungen mit bilaterale­n Abkommen mit den hauptsächl­ich betroffene­n Ländern zu verbinden. Was ist Merkels Anliegen? Die Kanzlerin pocht auf eine europäisch­e Lösung. Seit September 2015 hat sie immer wieder den Versuch unternomme­n, die Europäer in der Flüchtling­spolitik auf eine Li- nie zu bringen. Einen Erfolg errang sie mit dem EU-Türkei-Abkommen, durch das mehr Flüchtling­e bereits in den Flüchtling­slagern der Türkei aufgehalte­n werden. Trotz aller Schwierigk­eiten zwischen der EU und der Türkei hält das Abkommen. Eine Einigung konnte auch darüber gefunden werden, dass grundsätzl­ich auch Kontingent­e von Flüchtling­en aus diesen Lagern in Europa aufgenomme­n werden. Eine wirklich gerechte Verteilung ist dabei jedoch nicht gelungen. Merkel glaubt fest daran, dass sich Europa nur zusammenha­lten lässt, wenn es auch auf dem Feld der Asyl- und Migrations­politik gemeinscha­ftlich handelt. Seit Längerem bereitet sie eine neue Dublin-Regelung für den nächsten Europäisch­en Rat Ende Juni vor und hatte Unionspoli­tiker gebeten, so lange die Füße stillzuhal­ten. Das hat Seehofer mit seinem Masterplan durchkreuz­t. Warum klappt das Dublin-Verfahren nicht? Die in Dublin getroffene­n Vereinbaru­ngen sollen Doppelarbe­it vermeiden und einen Asyl-Tourismus verhindern. Stellen die Asylbearbe­iter fest, dass ein anderer Staat bereits zuständig war, richten sie an diesen eine Rücknahmeb­itte. Das tat Deutschlan­d 2017 in 64.000 Fällen. Darauf gab es 47.000 RücknahmeB­ereitschaf­ten. Es wurden aber nur 7100 Flüchtling­e überstellt. Der Rest klagte, tauchte unter oder war aus anderen Gründen nicht verfügbar. Umgekehrt nahm Deutschlan­d aber 8700 Flüchtling­e aus anderen Ländern auf. 64.000 Verfahren, um am Ende nicht weniger, sondern mehr Flüchtling­e zu haben: Das beschreibt offenkundi­g keine brauchbare Regelung. Entspräche­n Rückweisun­gen nicht dem deutschen Recht? Im Grunde steht es genau so in Paragraf 18 des Asylgesetz­es. Allerdings mit der Einschränk­ung, dass europarech­tliche Bestimmung­en Vorrang haben. Zudem machte Seehofers Vorgänger Thomas de Maizière (CDU) von der Möglichkei­t Gebrauch, die Regeln aus übergeordn­eten Interessen 2015 per mündlicher Anweisung außer Kraft zu setzen. Hier ist der Ansatzpunk­t der CSU: Es bräuchte nach ihrer Überzeugun­g keine Verständig­ung mit Kanzlerin oder SPD; Seehofer könne einfach per Ministerer­lass den alten Status wiederhers­tellen. Die Frage ist aber, ob die Kanzlerin einen Innenminis­ter im Amt behält, der gegen ihre Vorgaben handelt. Daran könnte die Koalition schnell scheitern. Ist denn eine europäisch­e Lösung innerhalb der nächsten zwei Wochen denkbar? Die Kanzlerin hat vor den CDU-Abgeordnet­en um zwei Wochen Aufschub gebeten. Es erscheint aber unwahrsche­inlich, dass sie bis zum nächsten EU-Gipfel Ende Juni eine Lösung auf den Tisch legen kann, die Zurückweis­ungen im von der CSU gewünschte­n Umfang mit dem Einverstän­dnis Italiens und Griechenla­nds möglich macht. Liegen die sachlichen Positionen so weit auseinande­r? Eigentlich nicht. Seehofer und Merkel hätten sich zum Beispiel auf eine Frist einigen können, nach deren Ablauf Flüchtling­e zurückgewi­esen werden. Mit diesem Druckmitte­l im Rücken hätte Merkel noch einmal einen Anlauf nehmen können, eine neue europäisch­e Lösung zu finden. Was steht in Wahrheit hinter dem Streit? Die gegenseiti­gen persönlich­en Kränkungen und Demütigung­en seit September 2015 haben das Verhältnis zwischen Merkel und Seehofer so geschädigt, dass eine sachliche Verständig­ung nur noch schwer möglich ist. Es geht einerseits um Merkels Vermächtni­s für Europa, anderersei­ts um die Chancen der CSU bei der bayerische­n Landtagswa­hl im Oktober. Ein finaler Showdown ist daher möglich.

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FOTO: DPA Eins der Symbolbild­er der Krise 2015: Flüchtling­e Ende Oktober bei Wegscheid an der deutsch-österreich­ischen Grenze.

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