Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Dann hieße es nur noch, durch die Schwarmlinien der roten Armeen hindurchzukommen, dazu aber seien Papiere nicht erforderlich, im neuen Russland gäbe es keinen Bürokratismus. Persönlicher Mut, Geschicklichkeit und entschlossenes Auftreten – darauf allein käme es an.
Es galt als abgemacht, dass Kohout mit nach Russland gehen werde, doch sein Vater durfte von diesem Entschluss nichts erfahren, er musste vor die fertige Tatsache gestellt werden, größte Vorsicht war geboten. Kohout blickte sich um, ob kein Horcher in der Nähe sei, er hatte überall Feinde und Neider. Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern.
„Gutwillig läßt er mich nicht gehen, das ist sicher“, sagte er und drehte die Hände in den Gelenken. „Du darfst zu keiner Menschenseele davon sprechen, hörst du? In Moskau hab’ ich noch Aussichten, dort sucht man verlässliche Genossen, Intellektuelle, mit der Laterne. Hier? Hier kann ich auf dem Mist verrecken. Das Geld für die Reise wird da sein, wann ich es brauche, sorg’ dich nicht. Ich werde es mir schon verschaffen, wie, das lass meine Sache sein. Und jetzt – du entschuldigst mich, nicht wahr? Mein Partner wird ungeduldig. Es ist ohnehin meine einzige Zerstreuung, das bisschen Billard am Abend.“
Die Unterredung zwischen Vittorin und Doktor Bamberger fand an einem der letzten Novembertage statt. Lola hatte sie herbeigeführt. Eine Weile noch machte sie sich im Zimmer zu schaffen, rückte eine Decke zurecht, schob einen Sessel an seinen Platz. Dann ging sie, und während sie die Tür geräuschlos hinter sich zuzog, warf sie ihrem Bruder, der wie verloren im Zimmer stand, einen aufmunternden Blick zu.
„Nehmen Sie Platz, Herr Vittorin!“sagte Doktor Bamberger, der fröstelnd, mit hochgezogenen Schultern, in dem engen Raum zwischen Schreibtisch und Kachelofen auf und nieder ging. Er war von kleiner, zierlicher Figur, in seinem krankhaft blassen Gesicht lag der Ausdruck einer überwachen Intelligenz. Auf seine Kleidung schien er nicht allzu großes Gewicht zu legen; zu einem schlecht sitzenden, offenbar fertig gekauften Anzug trug er eine altmodische, genähte Krawatte. Nur seine schmalen Lackschuhe waren von einer ausgesuchten, beinahe stutzerhaft anmutenden Eleganz.
„Ich möchte mir eine lange Einleitung gern ersparen“, fuhr er fort, „und auch Ihnen wird es vielleicht lieber sein, wenn wir rasch zur Sache kommen. Sie wissen, dass ich eine Stellung zu vergeben habe. Ihr Fräulein Schwester hatte die Freundlichkeit, mich auf Ihre Person, Ihre Kenntnisse, Ihre Fähigkeiten aufmerksam zu machen. Sie haben Erfahrungen im Speditionsfach und in der Zollmanipulation. Sie korrespondieren französisch und italienisch –“
„Auch Russisch spreche ich“, warf Vittorin ein, indem er sich ein wenig von der Ottomane erhob.
Doktor Bamberger nahm diese Mitteilung mit einem verbindlichen Kopfnicken zur Kenntnis.
„Auch Russisch. Sehr gut. Und Sie sind, was für mich das Allerwichtigste ist, auch mit den Usancen der verschiedenen Börsenplätze vertraut. Können Sie mir vielleicht sagen, zu welchen Konditionen vor dem Krieg an der Londoner Börse Zinn gehandelt wurde?“
„Zinn? Einen Augenblick bitte“, sagte Vittorin. „Einen Augenblick.“
Sein Ehrgeiz war geweckt. Sein Gedächtnis funktionierte, er konnte zeigen, was er wert war. Ach, wenn doch Seljukow solch eine Frage an ihn gerichtet hätte. Aber nein, hinaus mit ihm, Pascholl!
„Zinn“, wiederholte er. „Lieferbar: Klasse A, Singaporezinn, Penangzinn, Australzinn, englisches Raffinadezinn. Klasse B, gewöhnliches Zinn in anerkannter Qualität mit mindestens 99 Prozent Reingehalt. In Barren, in Slabs, in Blöcken. Zahlung netto Kassa gegen Dokumente. Übrige Konditionen nach den ,Rules and Regulations‘ der Londoner Metallbörse. Schluss fünf Tons oder ein Vielfaches davon. Rabatt bei Klasse B –“
„Stop!“rief Doktor Bamberger. „Das genügt, das genügt. Ich muss Ihnen gestehen, dass ich keine Ahnung von diesen Dingen habe. Aber soviel seh’ ich: Für diese Stelle, von der ich gesprochen habe, sind Sie der richtige Mann.“
„Welche Art von Stelle wäre das?“erkundigte sich Vittorin.
„Die eines meiner Person attachierten Sekretärs“, gab Doktor Bamberger, ohne seinen Rundgang durchs Zimmer zu unterbrechen, zur Antwort. „Sie müßten mir bei meinen geschäftlichen Unterhandlungen zur Verfügung stehen, das heißt also, zu jeder Tageszeit, manchmal auch abends und, wenn es sein muß, um zwölf Uhr nachts.“
„In den Abendstunden gern“, erklärte Vittorin, dem die Anerkennung, die seinen Kenntnissen gezollt wurde, wohl tat. „Aber tagsüber? Sie wissen – oder Sie wissen es vielleicht nicht, dass ich eine Anstellung habe. Ich bin Beamter der ,Mundus’ und habe Aussicht, in zwei oder drei Jahren stellvertretender Abteilungsvorstand zu werden.“
Doktor Bamberger blieb stehen, versenkte die Hände in die Hosentaschen und blickte Vittorin ins Gesicht.
„Abteilungsvorstand“, sagte er. „Meine Glückwünsche. Fünfhundert Kronen monatlich und vollen Pensionsbezug nach fünfunddreißig Dienstjahren. Sehr schön. Die Aussichten, die ich Ihnen zu bieten habe, sind anderer Art. Ich habe die Absicht, innerhalb eines halben Jahres meinen Weg zu machen, und nehme Sie mit.“
„Ich verstehe nicht“, sagte Vittorin. „Sie nehmen mich mit. Wohin?“
„Wohin? Sonderbare Frage. Zur Table d’hôte des Lebens, Herr Vittorin. Oder, um es präziser auszudrücken: im eigenen Auto an die Riviera, wenn Sie wollen.“
Und als ob ihm bei dem Gedanken an die Riviera die Kälte, die im Zimmer herrschte, erst recht fühlbar geworden wäre, trat Doktor Bamberger mit hochgezogenen Schultern an den Ofen und wärmte sich die Finger.
„Ausgezeichnet!“rief Vittorin belustigt. „Da bin ich dabei. Mentone, Cannes, Monte Carlo – das lass ich mir gefallen. Wann gedenken Sie die Reise anzutreten, Herr Doktor?“
Doktor Bamberger schien den spöttischen Klang dieser Frage überhören zu wollen.
„Ich habe vorher noch einiges zu besorgen“, erklärte er, ohne den Kopf zu wenden. „Ich sagte Ihnen ja, dass ich mir innerhalb des nächsten halben Jahres ein Vermögen machen will, das für meine Bedürfnisse ausreicht.“
„In Monte Carlo vermutlich“, bemerkte Vittorin.
(Fortsetzung folgt)