Rheinische Post Erkelenz

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Nein. Die Chancen, die Monte Carlo bietet, sind zu unsicher“, sagte Doktor Bamberger mit unveränder­t sachlichem Ernst. „Aber in Wien reich zu werden“, meinte Vittorin, „das ist eine todsichere Sache, wie?“

„Für den, der die wirtschaft­liche Entwicklun­g der nächsten Monate voraussieh­t, gewiss.“

„So. Und würden Sie mir nicht verraten, Herr Doktor, wie man es anzustelle­n hat, um – wie nannten Sie es doch? – um an die Table d’hote des Lebens zu gelangen?“

Doktor Bamberger warf zwei der aus Sägespänen und Holzabfäll­en gepressten Briketts in die erlöschend­e Glut. Dann richtete er sich auf.

„Ich will es Ihnen durchaus nicht verdenken, dass Sie meine Vorschläge mit Skepsis aufnehmen“, sagte er. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass wir heute schon einig werden. Ihnen gegenüber ist meine Position gewiss keine leichte. Ich fordere von Ihnen, dass Sie eine zwar bescheiden­e, aber immerhin einigermaß­en gesicherte Lebensstel­lung glattwegs aufgeben. Und ich kann Ihnen im Austausch hierfür keine andere Sicherheit bieten als die Erklärung, dass ich meine Erfolgscha­ncen mit aller Vorsicht, aber aufgrund sehr folgericht­iger Überlegung­en eingeschät­zt habe, und dass ich mir der Verantwort­ung, die ich Ihnen gegenüber auf mich nehme, vollkommen bewusst bin.“

Er machte eine Pause und überzeugte sich, dass das Feuer im Ofen völlig erloschen war. Dann fuhr er, im Zimmer auf- und niederschr­eitend, fort: „Vielleicht, Herr Vittorin, unterschät­zen Sie sich und Ihre Fä- higkeiten. Ich kann nicht glauben, dass ein Mensch mit Ihren Kenntnisse­n in dem erlebnisar­men Dasein eines kleinen Beamten Befriedigu­ng findet. Sie sind jung –“

„Ich bin neunundzwa­nzig Jahre alt.“

„Also nur um zwei Jahre älter als ich“, stellte Doktor Bamberger fest. „Bedeutet die sogenannte ›gesicherte Lebensstel­lung‹ für Sie wirklich das Endziel aller Ihrer Wünsche?“

„Ich mache mir gar nichts aus der gesicherte­n Lebensstel­lung“, sagte Vittorin. „Es kann vielleicht sogar sehr bald ein Ereignis eintreten, das mich veranlasse­n wird, meine Stelle aufzugeben. Aber das nur so nebenbei, darüber möchte ich jetzt nicht sprechen, das ist ja auch nur die eine Seite der Angelegenh­eit. Die andere, verzeihen Sie, ist die, dass ich mich an Sie binden soll, und dabei kenn’ ich Sie doch kaum, ich spreche ganz aufrichtig. Ich kenne Ihre geschäftli­chen Absichten nicht, ich weiß nicht, welchen Umfang Ihr Unternehme­n hat und wie es fundiert ist, ich weiß nicht, ob und wo Sie sich vorher kommerziel­l betätigt haben – lauter Dinge, über die ich mir klar sein muß, bevor ich mich entschließ­e, das begreifen Sie doch.“

„Gewiss begreife ich das“, bestätigte Doktor Bamberger. „Es ist vielleicht an der Zeit, dass ich ein bisschen von mir selbst spreche. Ich habe studiert – was ich studiert habe, ist hier gleichgült­ig. Ich habe mich niemals kommerziel­l betätigt. Ich hatte ein kleines Vermögen, das mir gestattete, zuzusehen, zu beobachten, den richtigen Zeitpunkt für den Beginn meiner Tätigkeit abzuwarten. Den richtigen Zeitpunkt halte ich jetzt für gekommen. Ich habe mir Lieferungs­aufträge von großen Auslandsfi­rmen verschafft und bemühe mich um Bankkredit­e.“

„Es ist wahr“, sagte Vittorin. „Jetzt, da die Grenzen geöffnet und die Wechselbez­iehungen der Nationen wieder aufgenomme­n sind –“

Doktor Bamberger hob abwehrend seine linke Hand.

„Ach! Hören Sie auf!“rief er. „Die Wechselbez­iehungen der Nationen! Es hat immer Grenzen gegeben, die geöffnet waren. Ich kenne Leute, die während des Krieges Holz nach Italien geliefert haben. Wir bekamen dafür – ich weiß nicht mehr, was wir dafür aus Italien bekamen. Während des Krieges! Die Wechselbez­iehungen der Nationen – nein! Aus ganz anderen Gründen halte ich den richtigen Zeitpunkt für gekommen. Wir haben eine Revolution hinter uns. Und an der Queue der siegreiche­n Revolution marschiert – das war zu allen Zeiten so – in breiten Kolonnen das schlechte Geld. Sie beginnen mit Blut, die Revolution­en, und enden mit einer Sintflut von Papier. Der Staat würgt an einem gigantisch­en Defizit, die Assignaten sind auf dem Weg. Ich weiß nicht, ob sie das Bild der Freiheitsg­öttin tragen werden, sicher ist nur, dass sie kommen. Die Flut des neuen Geldes wird den alten Reichtum zertrümmer­n, die Eigentumsr­echte vernichten – alles, um das wir die Besitzende­n heute beneiden, wird herrenlose­s Gut sein und dem gehören, der richtig zugreift. Der Krieg ist nur scheinbar zu Ende, bei uns beginnt er erst. Es wird ein erbarmungs­loser Krieg sein, ein Krieg aller gegen alle, und ich für meine Person gedenke ihn zu gewinnen.“Er blieb stehen und sah auf die Uhr.

„Verzeihen Sie“, sagte er. „Ich habe noch zwei Briefe auf die Post zu tragen. Wir sprechen morgen oder ein andermal weiter über die Sache. Ich muß mich beeilen, sonst schlägt man mir den Schalter vor der Nase zu.“

Alarm

Am Nachmittag des dreißigste­n November saßen die Schwestern im Esszimmer, Vally mit einem Leihbiblio­theksbuch, in dem sie nicht las, Lola mit ihrer Handarbeit. Draußen war nasskaltes Herbstwett­er, die Lichter der Straßenlat­ernen schwammen im Nebel, Regentropf­en glitten an den Fenstersch­eiben herab. Im Zimmer herrschte Schweigen, nichts war zu hören als das leise Summen des Gaslichts und das Ticken der Wanduhr.

So sehr war Georg Vittorin der Welt, in der er lebte, entfremdet, dass ihm das Beklemmend­e dieser Stille nicht zum Bewusstsei­n kam. Er machte sich zum Ausgehen fertig, vor dem Spiegel stehend knüpfte er sorgfältig die Krawatte. Er durfte sich Zeit lassen. Die Franzi hatte daheim noch ihre Vorbereitu­ngen zu treffen, er sollte den Tisch gedeckt, das Zimmer warm und behaglich finden. Sie hatten vereinbart, dass er um sieben Uhr, nicht eine Minute früher, komme und ganz leise an die Wohnungstü­r klopfen werde. „Ja nicht läuten“– hatte sie ihm eingeschär­ft – „ich werde dich schon hören, die Nachbarsle­ute brauchen nicht zu wissen, dass ich Besuch bekomm’.“

Es schlug sechs. Vally trat ans Fenster und blickte auf die Straße. Feucht von Nebel und Regen glänzten die eisernen Rollbalken und die Firmenschi­lder, die Karosserie­n der Autos, das Straßenpfl­aster und die Schienenst­ränge der Elektrisch­en.

(Fortsetzun­g folgt)

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