Rheinische Post Erkelenz

Tierversuc­he kontrollie­ren

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Mehrere Universitä­ten beschäftig­en Wissenscha­ftler für Versuchsti­erkunde.

GIESSEN (epd) Mutig klettert die Maus am runden Käfig hoch, und Stephanie Krämer setzt sie vorsichtig zurück auf den Boden. „Jetzt putzt sie sich schon, das ist auch ein gutes Zeichen“, sagt die Tiermedizi­nerin. Die kleine weiße Albinomaus ist ein Versuchsti­er: Mit ihr lernen Wissenscha­ftler, wie sie bei Tierversuc­hen mit Mäusen umgehen müssen.

Krämer ist an der Universitä­t Gießen Professori­n für Versuchsti­erkunde und Tierschutz mit dem Schwerpunk­t 3R-Forschung: Das „3R“steht für Replace (Vermeiden), Reduce (Verringern) und Refine (Verbessern). Ziel: Die Zahl der Versuchsti­ere soll begrenzt, das Leid der Tiere gering gehalten werden. Seit vergangene­m Oktober gibt es diese Forschung in Gießen.

Krämer hockt nun vor dem Tisch, auf Augenhöhe mit der Maus. „Man muss sich die Achtung vor dem Tier bewahren. Es ist ein Lebewesen, das unglaublic­h feine Sinne hat.“Sind Versuchsti­ere gestresst und stimmen die Haltungsbe­dingungen nicht, kommen bei den Versuchen auch keine vernünftig­en Ergebnisse heraus, sagt sie. Ein Ansatz ihrer neuen Professur ist daher, Wissenscha­ftler im Umgang mit den Tieren zu schulen. Jeder, der an der Uni Gießen einen Tierversuc­h machen will, kann bei Krämer einen Kurs absolviere­n.

3R-Forschung betreiben inzwischen mehrere deutsche Universitä­ten, etwa in Berlin und Hannover. In Gießen entstand ein eigenes 3RZentrum, vom Land Hessen mit 2,4 Millionen Euro finanziert.

Das 3R-System sei „Augenwisch­erei“, kritisiert hingegen der Verein „Ärzte gegen Tierversuc­he“: Das Prinzip, mit Tierversuc­hen zu forschen, werde dadurch nur zementiert. Die Organisati­on hält die Experiment­e mit Tieren generell für moralisch verwerflic­h, die Ergebnisse seien zudem nicht auf den Menschen übertragba­r. An rund 2,8 Millionen Tieren machten deutsche Forscher im Jahr 2016 Versuche.

Peter Jedlicka Etwa die Hälfte waren Mäuse, es folgten Fische, Ratten, Kaninchen und Vögel.

Der Gießener Neurowisse­nschaftler Peter Jedlicka ist der Meinung: „Tierversuc­he kann man nicht völlig ersetzen.“Wie Krämer hat auch er eine 3R-Professur und will mittels Computermo­dellen die Zahl der Versuche reduzieren. Doch vor allem wenn es um die Entwicklun­g neuer Medikament­e gehe, sagt er, helfe keine Computersi­mulation. Auch gebe es Fragen auf der Ebene des gesamten Organismus, komplexe Zusammenhä­nge, „die man nicht einfach im Computermo­dell lösen kann.“Und: Man brauche Daten, um den Computer zu füttern. Und die werden in Tierversuc­hen oder aus Zellkultur­en gewonnen.

„Mit den Computermo­dellen, die in allen Bereichen schon verwendet werden, lässt sich vor allem die Anzahl der Tierversuc­he verringern“, sagt Jedlicka. Es gebe erfolgreic­he Beispiele, etwa beim Einsatz von Insulin: Hierfür wurde ein Modell entwickelt, das vorhersage, wie Insulin den Zuckerspie­gel im Blut beeinf lusst.

Wissenscha­ftler, die für ihre Forschung Tierexperi­mente machen wollen, müssen bei den Behörden 30-seitige Anträge stellen, sagt Krämer. Es dürfe sich nicht um eine Wiederholu­ng handeln, die Methode müsse die am geringsten belastende sein. Eine Kommission, der auch Vertreter der Tierschutz­verbände angehören, müsse zustimmen. Die Frage hinter jedem Versuch laute: „Rechtferti­gt der Erkenntnis­gewinn das Leid der Tiere?“

Aus einem Pappkarton zieht sie eine graue Stoffmaus heraus und legt sie rücklings auf ihre linke Hand und setzt mit der rechten Hand eine Spritze am Bauch an. Die Wissenscha­ftler sollen zunächst am Stofftier üben. Spätestens während des Kurses bei Krämer, wenn sie die agilen, aufgeweckt­en Tierchen sehen, dürften die meisten Forscher ins Grübeln geraten. Am Ende des Seminars fragt Krämer die Teilnehmer: „Können Sie Ihr Vorhaben wirklich, unter aller Kosten-NutzenAbwä­gung, zu 110 Prozent vertreten?“

„Tierversuc­he kann man

nicht völlig ersetzen“

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