Auslegungssache
Um die Interpretation der Gipfelbeschlüsse der Europäischen Union ist selbst unter Beteiligten eine lebhafte Debatte ausgebrochen. Was gilt nun von der Asyl-Agenda – und was nicht?
BRÜSSEL
Nach dem EU-Gipfel hat eine Debatte über die Beschlüsse in der Migrationspolitik eingesetzt. Einige Staatsund Regierungschefs distanzieren sich bereits von den Entscheidungen. Es wird befürchtet, dass von den Ergebnissen nicht viel in der Praxis ankommt.
Worum gibt es Streit?
Staats- und Regierungschefs interpretieren Gipfel-Beschlüsse bei ihrer Ankunft im Heimatland immer ein bisschen unterschiedlich. Doch selten gehen die Bewertungen so stark auseinander wie dieses Mal. Festzuhalten ist: Keinen Streit gibt es bei dem Willen, Europa stärker gegen illegale Migration dichtzumachen. Unterschiede gibt es bei den Lagern in und außerhalb der EU, wo künftig der Asylanspruch geprüft werden soll. Die gravierendsten Differenzen gibt es aber bei dem Thema, das nicht Teil der Gipfelbeschlüsse, aber für die innenpolitische Debatte in Deutschland umso wichtiger ist: den zwischenstaatlichen Vereinbarungen über die Rücknahme von Migranten, die anderswo bereits registriert wurden.
Welche Länder sind zu Vereinbarungen mit Deutschland bereit?
Angela Merkel hatte 16 Länder angeführt. Sie habe beim Gipfel Zusagen erhalten, die auf eine beschleunigte Rückführung von Asylbewerbern hinausliefen, die bereits andernorts registriert wurden. Ungarn und Tschechien zählten dazu. Die Regierungschefs aus Prag und Budapest widersprachen aber inzwischen. Ungarns Viktor Orbán sagte: „Das ist eine Ente, es ist zu keinerlei Vereinbarung gekommen.“Tschechiens Ministerpräsident Andrej Babis äußerte sich ähnlich. Kooperieren wollen offenbar Griechenland, Spanien, Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Litauen, Lettland, Luxemburg, die Niederlande, Polen, Portugal und Schweden.
Wann wird die Asyl-Agenda des Gipfels in die Tat umgesetzt?
Grundsätzlich gilt: In Gipfelbeschlüssen einigen sich die Staats- und Regierungschefs einstimmig, was künftig getan werden soll. Das sind naturgemäß Absichtserklärungen. Damit wird die EU-Kommission aufgefordert, Lösungsmöglichkeiten und Gesetzgebungsvorschläge zu erarbeiten. Dies läuft jetzt an. Die Kommission wird in den nächsten Wochen und Monaten etwa Vorschläge machen für die schnelle Aufstockung des EU-Grenzschutzes Frontex auf 10.000-Mann-Stärke, für einheitliche Asylstandards in der EU und all die anderen Themen, bei denen die „Chefs“ihr Arbeitsaufträge erteilt haben. Vor allem ist die Kommission gefordert, Lager in und außerhalb der EU vorzubereiten, wo schnell zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und Menschen mit Anspruch auf internationalen Schutz unterschieden werden soll.
Wie ist der Stand bei Lagern außerhalb der EU?
Hierzu sucht die Kommission das Gespräch mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sowie der Internationalen Organisation für Migration IOM. Bisher hat die EU viele Absagen nordafrikanischer Länder bekommen. Ägypten, Tunesien, Libyen, Marokko und Algerien sind nicht bereit, auf ihrem Territorium „regionale Ausschiffungsplattformen“einrichten zu lassen. Diese Lager sollen dazu beitragen, das Geschäftsmodell der Menschenhändler zu zerstören. Die Hoffnung der EU ist, dass Wirtschaftsflüchtlinge sich nicht mehr auf Geschäfte mit Schmugglern einlassen, wenn sie nicht mehr in der EU, sondern einem Drittstaat landen. Ein Sprecher der EU-Kommission räumte am Montag ein, dass viele Länder Absagen erteilt hätten. Die Kommission gebe aber nicht auf: „Wir arbeiten daran.“Nun sind auch Mali, Niger und Nigeria dafür im Gespräch. Österreich hat einen EU-Afrika-Gipfel ins Gespräch gebracht, bei dem auch Abkommen mit afrikanischen Ländern nach dem Muster des Türkei-Deals erarbeitet werden könnten.
Wie ist der Stand bei Lagern innerhalb der EU?
Griechenland und Spanien sollen 31. August 2015 „Wir schaffen das“, sagt Angela Merkel über die Aufnahme von Flüchtlingen. Tausende machen sich von Budapest aus zu Fuß in Richtung Deutschland auf. 4./5. September 2015 Österreichs Kanzler Werner Faymann bittet Merkel, die Flüchtlinge nach Deutschland durchzulassen. Horst Seehofer ist in dieser Nacht telefonisch nicht erreichbar. Merkel entscheidet, die im Schengenraum offenen Grenzen nicht zu schließen. Seehofer nennt das Vorgehen kurz danach einen Fehler. 10. September 2015 Bei ihrem Besuch in einer Berliner Einrichtung für Flüchtlinge lächelt die Kanzlerin für Selfies in die Handykameras. Allein im September kommen 135.000 Menschen über die deutsch-österreichische Grenze.