Rheinische Post Erkelenz

Die Entschiede­ne

Wer sich über ein Jahrzehnt im Kanzleramt hält, hat Nerven aus Stahl. Angela Merkel hat alles geschafft. Ihr Traum ist aber in Gefahr.

- VON KRISTINA DUNZ

In diesem Fall gibt es keine Mitte. Die Mitte – das ist das Synonym, das Angela Merkel in ihrer bisher 18 Jahre langen Geschichte als Vorsitzend­e der CDU für diese große Volksparte­i gepflegt hat. Es steht für Einigung, für Kompromiss­e und für Stabilität. Und in übergroßen Lettern in Weiß auf Blau im Foyer der Parteizent­rale in Berlin: „Die Mitte“. In dieser Krise mit der CSU aber gibt es keine Schnittmen­ge. Es gibt nur entweder oder. Und das ist jetzt der Scheideweg. So oder so wird man später an diese Wegmarke kommen, an der die Ära der Kanzlerin endgültig anfing zu enden.

Sie wird jetzt ihren Kurs halten. Die inzwischen 63-Jährige hat schon immer lange gebraucht, um eine Entscheidu­ng zu treffen. Aber wenn sie einmal entschloss­en ist, zieht sie das durch. So wie in der Atompoliti­k – erst verlängert sie die Laufzeiten der Meiler, und dann beschließt sie den Atomaussti­eg. Oder bei der Wehrpflich­t, die unter ihr ausgesetzt wird. Oder bei der Ehe für alle, gegen die sie sich lange stemmt; den Widerstand dagegen räumt sie binnen Tagen ab.

Merkel ist ein Machtmensc­h, ausdauernd, hart im Nehmen, beherrscht, kühl – und wenn es sein muss, eiskalt. So hat sie sich vieler Männer in der CDU entledigt, die zu spät erkannten, dass sie ihr im Weg standen.

In diesen Chaostagen sei sie völlig ruhig, mit sich im Reinen, nicht emotional, einfach zielorient­iert, heißt es aus allen Gremiensit­zungen. Eigentlich so wie immer. Dabei gehe es doch jetzt ums Ganze. Manche finden das unheimlich. Sie fluche nicht, sie beleidige nicht, sie mache einfach weiter Politik. Und das bedeutet jetzt: Sie wird keinen nationalen Alleingang in der Flüchtling­spolitik akzeptiere­n.

Merkel hat in der vorigen Woche wieder eine harte, schlaflose Verhandlun­gsnacht in Brüssel gehabt und viele Absprachen mit EU-Partnern getroffen. Das kann sie: Kompromiss­e schließen, wo andere schon nicht mehr wissen, was das eigentlich ist. Das hat ihr in der Welt den Ruf der Krisenmana­gerin eingetrage­n. In der Finanzkris­e, in der Schuldenkr­ise, in der Griechenla­ndkrise. Über viele Jahre.

Aber in der Flüchtling­skrise ist ihr das bisher nicht gelungen. Dabei weisen die Ergebnisse des EU-Gipfels vom vorigen Freitag einen konkreten Weg: Europa schottet sich ab. Die CSU des schwer angeschlag­enen Parteichef­s Horst Seehofer hätte sich auf die Schulter schlagen und den Erfolg für sich verbuchen können. Selbst bei dem für Merkel heikelsten Punkt der Zurückweis­ungen von Flüchtling­en an der Grenze gibt es Fortschrit­te: Es sollen „zügig“mit EU-Staaten Rücknahmea­bkommen geschlosse­n werden. Einige sind laut Merkel schon sicher, andere müssen noch erzielt werden.

Das wäre auch eine Aufgabe des Bundesinne­nministers, wenn es denn eine funktionie­rende Regierung gäbe, eine intakte Fraktionsg­emeinschaf­t von CDU und CSU und keine Feindschaf­t zwischen Christdemo­kraten und Christsozi­alen. Stattdesse­n bohrt die Partei aus Bayern an der Stelle, an der sie bei Merkel auf Beton stößt. Das sind eben nationale Alleingäng­e, die die CSU erzwingen will, so kurz vor einer europäisch­en Lösung.

Würde sie sich jetzt mürbe machen lassen von der Schwesterp­artei, dem kleineren Koalitions­partner, von Seehofer, könnte sie sich bei EU-Gipfeln nicht mehr blicken lassen, lässt Merkel in einer der Krisensitz­ungen erkennen. Europa gehöre zur DNA der CDU, das werde sie niemals beschädige­n lassen, macht sie in ihrem 13. Jahr ihrer Kanzlersch­aft deutlich.

Es wird das Jahr sein, in dem sie schmerzlic­h merkt, wie ihr jetzt die Zeit wegläuft, einen alten Traum wahr werden zu lassen: den vom selbstbest­immten Abschied aus der Politik. In diesem Amt hat das noch niemand vor ihr geschafft. 2020, ein Jahr vor der nächsten Bundestags­wahl, könnte sie den Wechsel einleiten, 20. November 2015 Auf dem CSU-Parteitag in München kritisiert Seehofer die Kanzlerin auf offener Bühne, während sie neben ihm steht. Merkel ist düpiert.

3. Januar 2016 Seehofer fordert erstmals eine konkrete Obergrenze: maximal 200.000 neue Flüchtling­e pro Jahr. Merkel hält eine Obergrenze für gefährlich, weil die Bundesregi­erung deren Einhaltung nicht garantiere­n könne. dann 2021 abtreten und damit ihre Zusicherun­g an die Bürger einhalten, eine volle Amtsperiod­e, ihre vierte, Deutschlan­d zu dienen.

Merkel ist Naturwisse­nschaftler­in, sie betrachtet die Dinge vom Ende her. Sie kommunizie­re nicht viel, lautet eine Kritik aus der CDU. Ihre Doktorarbe­it widmete die Physikerin vor über 30 Jahren einer Untersuchu­ng, deren bloße Beschreibu­ng im übertragen­em Sinne auf die tiefen Risse in der Union passt: „Der Mechanismu­s von Zerfallsre­aktionen mit einfachem Bindungsbr­uch.“ Die Bindung zu Seehofer brach allerspäte­stens, als er ihr 2016 in der Flüchtling­spolitik eine „Herrschaft des Unrechts“vorwarf.

Zu Zerfallsre­aktionen gehört die Drohung, dass die CDU bei der Landtagswa­hl in Bayern antreten könnte. Bleibt noch die „Berechnung der Geschwindi­gkeitskons­tanten“in Merkels Dissertati­on. In der Unionskris­e braucht sie dafür keine quantenche­mische Methode. Nur gesunden Menschenve­rstand.

Es sieht alles danach aus, dass sich Merkel beeilen muss mit einem Plan für ihren Abschied aus dem Kanzleramt. Auch wenn es eine Lösung im erbitterte­n Asylstreit mit der CSU gibt, wird sie nicht lange darauf warten müssen, bis die Schwesterp­artei das nächste Fass aufmachen wird. Dann hat Merkel es vielleicht nicht mehr in der Hand. 9. Februar 2016 Seehofer nennt die offenen Grenzen für Flüchtling­e im Herbst 2015 „eine Herrschaft des Unrechts“. 24. September 2017 Trotz Verlusten gewinnt die Union die Bundestags­wahl, doch die CSU stürzt auf für ihre Verhältnis­se katastroph­ale 38,8 Prozent ab.

3. Juli 2017 Eine Obergrenze für Flüchtling­e fehlt zwar im Wahlprogra­mm der Union, steht aber im gesonderte­n CSU-Programm „Bayernplan“.

Eine krasse Fehleinsch­ätzung oder einfach eine Schutzbeha­uptung? So genau weiß man das bei Seehofer oft nicht. Es ist der 13. Juni. Merkel und er sind später im Kanzleramt zum Gespräch über seinen „Masterplan“und den Konflikt über die Zurückweis­ungen an der Grenze verabredet. Es ist der Abend vor den außerorden­tlichen getrennten Fraktionss­itzungen der Union.

In diesem Sommer eskaliert die Dauerfehde, die Seehofer seit 14 Jahren mit Merkel ausficht. Im Jahr 2004 trat er als Opposition­spolitiker aus Protest gegen die von der Union beschlosse­ne Gesundheit­sprämie von seinem Posten als Fraktionsv­ize zurück – freilich nicht ohne ein zwei Wochen dauerndes Drama um diesen Rücktritt zu erzeugen. Schon damals hätte er gute Gründe gehabt, seine politische Karriere auslaufen

14. Juni 2018 Seehofer droht Merkel mit einem Alleingang.

11. Juni 2018 Seehofer verschiebt die geplante Vorstellun­g seines „Masterplan­s für schnellere Asylverfah­ren und konsequent­ere Abschiebun­gen“wegen Differenze­n mit Merkel über die Frage der Zurückweis­ungen.

12. März 2018 Seehofer wird Innenminis­ter in der neuen großen Koalition. abbildet und unmittelba­r auf Wählerbedü­rfnisse reagiert. Als US-Präsident Donald Trump zur Empörung der Welt sein „America first“ausgab, erklärte Seehofer achselzuck­end, für ihn habe schon immer „Bayern zuerst“gegolten. Er ist eine Art gemäßigter Populist. Dass die Euphorie über die in Deutschlan­d ankommende­n Flüchtling­e rasch nachlassen werde, erkannte er 2015 früh. Seitdem kämpft er persönlich und politisch gegen Merkels Kurs.

Mittlerwei­le ist Seehofer 68 Jahre alt. Er hätte sich mit seinem Abgang als Ministerpr­äsident in Bayern aus der Politik zurückzieh­en und mehr Zeit seiner geliebten Modelleise­nbahn widmen können. Bei seinen Zügen und Modellfigu­ren hat er stets alles unter Kontrolle. Niemals rasen Züge aufeinande­r zu.

Seehofer aber wollte seine Mission

30. Juni 2018 Merkel sitzt zwei Stunden lang mit Seehofer im Kanzleramt zusammen. Seehofer berichtet im CSU-Vorstand am nächsten Tag, das Gespräch habe nichts gebracht. 29. Juni 2018 Auf einem EU-Gipfel einigen sich die Mitgliedsl­änder auf eine stärkere Abschottun­g Europas; die Verteilung von Flüchtling­en soll nur noch freiwillig erfolgen. 1. Juli 2018 Seehofer bietet seinen Rücktritt von allen Ämtern an, doch CSU-Spitzenleu­te überreden ihn, noch einmal mit Merkel zu sprechen.

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FOTO: DPA
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TEXT: MAR | FOTOS: DPA {5), REUTERS (2), AFP | GRAFIK: FERL
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