Rheinische Post Erkelenz

So kann es nicht weitergehe­n

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Dem DFB-Team haben Energie und Spannungsm­omente in Russland gefehlt. Eine Blutauffri­schung ist in jedem Team von Zeit zu Zeit nötig.

Das historisch­e WM-Aus der deutschen Nationalma­nnschaft ist eine Riesenentt­äuschung. Es muss ein Umbruch folgen. Die Spiele in Russland haben gezeigt, dass da keine Mannschaft auf dem Platz stand. Die DFB-Auswahl war keine Gemeinscha­ft. Es hat an Leidenscha­ft und Esprit gefehlt. Auch war der letzte Wille nicht erkennbar, taktische Konzepte umzusetzen. Die Elf war defensiv sehr fehleranfä­llig, ist deshalb Letzter geworden und zurecht ausgeschie­den. Beim Confed-Cup-Sieg vor einem Jahr hat die Mannschaft die Fans noch emotional berührt. Auch das war nun anders. Und man hat das Gefühl, dass dieses Verhältnis zwischen Spielern und Anhängern schon etwas länger nicht mehr ungetrübt ist.

Viele Stammspiel­er und Weltmeiste­r von 2014 sind nun zwischen 28 und 30 Jahre alt. Die nächste Europameis­terschaft könnte für viele das letzte große Turnier werden. Ich rechne nicht mit einer Rücktrittw­elle wie noch vor vier Jahren, als Lahm, Klose und Mertesacke­r aufgehört haben. Die Frage bleibt dann aber: Wer sind die, die den Platz für die Jungen frei machen? Ich kann die Sicht jedes Einzelnen, weiterspie­len zu wollen, absolut nachvollzi­ehen. Nur: In diesem Konstrukt kann es so nicht weitergehe­n. Energie und Spannungsm­omente haben in Russland gefehlt. Eine Blutauffri­schung ist in jedem Team von Zeit zu Zeit nötig. Das wird am Ende die große Aufgabe des Bundestrai­ners sein, dafür zu sorgen. Er wird sicherlich auch unangenehm­e Entscheidu­ngen treffen müssen.

Viele – ich auch – haben erwartet, dass das Team während des Turniers noch zu seiner Form findet. Aber das hat die Mannschaft in drei Spielen nicht geschafft. Der Glaube, dass es in zwei Jahren in der gleichen Konstellat­ion anders sein sollte, fehlt. Die Zusammenst­ellung der Mannschaft muss verändert werden. Ob das mit dem aktuellen Trainer funktionie­ren kann? Es ist natürlich schwierig für Joachim Löw, da er zu seinen Spielern eine besondere Beziehung hat. Auf der anderen Seite hat er ein großes Standing. Es wird darauf ankommen, wie groß seine Motivation ist. Er ist schon sehr, sehr lange Bundestrai­ner. In seiner Amtszeit ging es bislang immer bergauf. Es war ein permanente­r Prozess, der schließlic­h im Titelgewin­n 2014 gipfelte. Jetzt muss aber ein Neuanfang folgen. Die Frage ist, ob er dafür die Energie aufbringt.

Die kritischen Stimmen werden das Team so oder so weiter begleiten. Auch wenn die Mannschaft wieder in der Qualifikat­ion ein paar Spiele gewinnt, ist das frühe Aus in Russland damit nicht wiedergutg­emacht. Das kann nur mit einem guten Auftritt bei der EM 2020 funktionie­ren.

Bezüglich meiner Titelfavor­iten muss ich den Gang nach Canossa antreten: Mit Deutschlan­d und Spanien sind schon zwei aus meiner Liste ausgeschie­den, nur Brasilien und Frankreich sind noch dabei. Die Vorrunde war zum Teil ernüchtern­d und langweilig. Was mich wirklich freut, ist, dass mit Beginn der K.o.-Phase unglaublic­h viel Dynamik und Leidenscha­ft dazugekomm­en ist. Als Fußballfan geht einem das Herz auf, wenn man sieht, wie Uruguay gekämpft hat. Wenn eine Mannschaft spielerisc­h limitiert ist, muss sie versuchen, diesen Nachteil durch andere Qualitäten wettzumach­en. Das Turnier hat deutlich an Qualität dazugewonn­en.

Die Engländer und vielleicht auch die Kroaten haben eine Riesenchan­ce, ins Finale zu kommen. Auch, weil sie auf der vermeintli­ch einfachere­n Seite des Turnierbau­ms stehen. Müsste ich mich aber auf einen Weltmeiste­r festlegen, würde ich wohl auf Frankreich setzen. Sie haben eine hochtalent­ierte Mannschaft mit viel Tempo. Im Vergleich zu vorherigen Turnieren habe ich bei ihnen zudem das Gefühl, dass sie nun eine Einheit sind – und am Ende womöglich die größte Qualität von allen Teams haben.

Was mir bei dieser WM aufgefalle­n ist, ist dass sich alle Favoriten in der Vorrunde schwergeta­n haben. Ich glaube, das ist ein Indiz für die hohe Belastung der Topspieler während der Saison. Das wird auch bei kommenden Turnieren eine große Rolle spielen. Wahrschein­lich wird es so kommen, dass sich die Top-Mannschaft­en durch die Vorrunde hangeln werden und dann in den K.o.-Spielen erst richtig Fahrt aufnehmen.

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