Rheinische Post Erkelenz

Englands Traum vom Coup nervt Lineker

Seit 2006 haben die Briten kein K.o.-Spiel gewonnen. Kolumbien sehen viele nur als Durchgangs­station.

- VON HOLGER SCHMIDT, PATRICK REICHARDT UND MARTIN MORAVEC

REPINO (dpa) Jetzt beginnt das Turnier auch für England richtig. Und in der jüngeren Vergangenh­eit war es danach auch schnell wieder vorbei. Seit zwölf Jahren kein K.o.-Spiel gewonnen, seit 22 Jahren alle fünf Elfmetersc­hießen verloren, aber vor dem Achtelfina­le gefühlt schon im Endspiel: Die Euphorie um Englands Fußball-Nationalma­nnschaft ist Dauer-Twitterer und Überall-Experte Gary Lineker suspekt. „Es wirkt so, als hätten wir die wichtigste Stammtisch­parole des Fußballs vergessen: Immer ein Spiel nach dem anderen angehen“, schrieb der ehemalige Stürmer genervt: „In diesem Spiel geht es darum, nach zwölf Jahren mal wieder ein K.o.-Spiel bei einem großen Turnier zu gewinnen. Damit ist doch alles gesagt.“

Doch nach der guten Vorrunde und mit der Verlockung der wahrschein­lich leichten Turnierhäl­fte, träumen die leidgeplag­ten britischen Fußball-Fans schon vor dem Achtelfina­le am Dienstag gegen Kolumbien vom Coup. Angesichts eines möglichen Viertelfin­ales gegen die Schweiz oder Schweden und einem Halbfinale gegen Russland oder Kroatien, sogar vom ersten Endspiel seit dem Titelgewin­n 1966. Ex-Nationalsp­ieler Michael Owen schrieb in einer Kolumne für die „Daily Mail“, England habe vielleicht „eine riesige Chance, das Turnier zu gewinnen“. Und Harry Kane strotzt nur so vor Tatendrang. „Jetzt kommt der Moment der Wahrheit“, sagte der bereits fünffache Turniertor­schütze: „Mein Selbstvert­rauen ist unendlich und ich bin zu allem bereit.“

Der Hype ist so groß, dass die von Trainer Gareth Southgate getragenen Anzugweste­n auf der Insel zum Renner werden. „Das zeigt also wieder nur, dass im Leben alles möglich ist“, sagte dieser schmunzeln­d. Doch der Euphorie im Lager der sonstigen Dauer-Pessimiste­n traut Southgate nicht ganz. Deshalb war er vor „Englands wichtigste­m Spiel seit zehn Jahren“sogar froh über Kritik an seiner Wechselari­e vor dem Gruppenfin­ale gegen Belgien (0:1). „Um ehrlich zu sein: Ich habe mich nicht ganz wohlgefühl­t mit der ganzen Beweihräuc­herung“, sagte er: „Deshalb finde ich es ganz gut, dass es nun auch ein bisschen Gegenwind gibt.“

Die Niederlage gegen Belgien sowie die Kritik haben die Sinne innerhalb des Teams geschärft. Zumal alle Spieler, zumindest nach außen, Southgates Entscheidu­ng mit acht Wechseln stützen. Sogar Kane, der unbedingt WM-Torschütze­nkönig werden will. „Er sagte zu mir: ,Natürlich will ich den Golden Schuh gewinnen. Aber das Wichtigste ist die Mannschaft’“, berichtete Southgate: „Er hat es zu 100 Prozent verstanden und gezeigt, dass er ein echter Führungssp­ieler ist.“

England will seine beiden Traumata überwinden. Gegen die Angst vor dem Elfmetersc­hießen hat der Coach mit Psychotest­s, regelmäßig­em Training und fest geregelten Abläufen angekämpft. „Elfmetersc­hießen ist definitiv kein Glück. Und es hat auch nichts mit Zufall zu tun“, sagte ausgerechn­et Southgate, der im EM-Halbfinale 1996 gegen Deutschlan­d als einziger verschoss. Doch seinen Spielern hat er Selbstvert­rauen eingeimpft. Alle gaben an, im Fall der Fälle ohne Zögern schießen zu wollen.

Doch dass England seit einem 1:0 dank Beckham im WM-Achtelfina­le 2006 gegen Ecuador kein K.o.Spiel gewonnen hat, lag nicht nur an der Nervenschw­äche. „Dafür gab es viele verschiede­ne Gründe“, sagte Southgate: „Elfmeter, ja. Aber auch disziplina­rische Gründe. Und manchmal waren wir einfach nicht gut genug.“

Das soll nun anders sein. „Uns ist egal, was in der Vergangenh­eit war. Wir sind ein anderes Team, wir schauen nur nach vorne“, sagte WM-Debütant Dele Alli zur schwarzen Serie: „Und wir richten uns nicht mehr nach dem Gegner. Wir spielen unser Spiel. Und damit wollen wir so weit wie möglich kommen.“

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FOTO: DPA Innerhalb der regulären Spielzeit hat es bei dieser WM schon geklappt: Harry Kane verwandelt­e einen Elfmeter zum 2:0 gegen Panama.

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