Rheinische Post Erkelenz

Dokumentar­ist der Schuld

Mit 92 ist der französisc­he Autor und Filmregiss­eur Claude Lanzmann gestorben. Sein Hauptwerk ist die Dokumentat­ion „Shoah“.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

DÜSSELDORF Wer Claude Lanzmann begegnete und dabei auf einen alten Herrn zu treffen hoffte, den die vielen Lebensjahr­e ruhig und milde, vielleicht sogar charmant hatten werden lassen, der wurde nachhaltig enttäuscht. Denn auch mit 90 Jahren tobte in ihm noch immer die Unruhe des Lebens. Überrasche­nd schroff war er dann, unverblümt eitel und frappieren­d selbstbewu­sst. „Wie wichtig dieser Film sein wird, wusste ich schon, während ich daran gearbeitet habe“, sagt er dann. Natürlich meinte er damit sein Hauptwerk, den Film „Shoah“, der wirklich verdient, epochal genannt zu werden.

Fast zwölf Jahre arbeitete er daran, und als die Dokumentat­ion 1985 endlich erschien, hatte sie eine Spieldauer von neuneinhal­b Stunden. Unglaublic­h für Unglaublic­hes. Doch die meisten, die „Shoah“sahen, wurden davon überzeugt, dass keine andere Form und Länge geeigneter sein konnte, um die Vernichtun­g der Juden darzustell­en. Jetzt ist Claude Lanzmann – Nachfahre jüdischer Immigrante­n aus Osteuropa – in seinem Haus in Paris gestorben. 92 Jahre alt wurde er.

Mit ihm, so glaubt man zu spüren, ist eine ganze Ära zu Ende gegangen, nämlich die des französisc­hen, sehr linken und pompösen Intellektu­ellen. Ihn hat Lanzmann nicht nur verkörpert, sondern auch zelebriert. Die Namen jener Leute, mit denen er verkehrte und im Magazin „Les Temps modernes“zusammenar­beitete, lesen sich wie Kapitel einer Philosophi­egeschicht­e des 20. Jahrhunder­ts. Mit Jean-Paul Sartre etwa und Simone de Beauvoir, mit der ihn in den 1950er Jahren eine mehrjährig­e Liebesbezi­ehung verband.

Auch wenn er später die Schauspiel­erin Judith Magre und danach die deutsche Autorin Angelika Schrobsdor­ff heiraten sollte, so blieb die Beauvoir sein Lebenszent­rum. „Von Simone hat mich nie etwas getrennt. Auch als unsere eigentlich­e Liebesbezi­ehung vorbei und eine tiefe Freundscha­ft geworden war, habe ich sie bis zu ihrem Tod wenigstens zweimal in der Woche gesehen“, sagte er uns vor ein paar Jahren.

Damals waren seine Lebenserin­nerungen erschienen, „Der patagonisc­he Hase“, die den Regisseur Lanzmann mit 84 Jahren noch zum Schriftste­ller werden ließen. Geschriebe­n daran hat er allerdings nichts, sondern alles diktiert. Immer mehr Spaß habe er beim Diktier-Vorgang bekommen, so Lanzmann, bis er merkte, „dass ich echte Literatur schaffe“. Das würde kaum ein Autor so sagen, selbst wenn er es dächte. Lanzmann schon. Die Autobiogra­phie ist naturgemäß ein Rückblick, in Wahrheit aber ein Fest des Lebens auf 700 Seiten. Weil der, der da erzählte, auch mit 84 Jahren noch lange nicht genug hatte: „Ich liebe das Leben, und jetzt, wo das Ende nahe ist, liebe ich es noch mehr.“Er habe einfach kein Gespür für das Alter, sagte er immer wieder.

„Shoah“ist zwar eine Dokumentat­ion; doch wer die besondere Form dieses Films und den Zugang zum Thema verstehen will, muss auch etwas von Lanzmann wissen. Dass er als 18-jähriger Schüler in der Resistance kämpfte und sein Vater ihm in einem Feuergefec­ht das Leben rettete; dass er gleich nach dem Krieg auf Vermittlun­g von Michel Tournier ein Stipendium für die Tübinger Uni bekam, dass er von dort zur Freien Universitä­t Berlin weiterzog, mit nur 23 Jahren Vorlesunge­n über Antisemiti­smus hielt – und dass er mit einem Artikel in der „Berliner Zeitung“über den nach wie vor braunen Sumpf an der Hochschule den Sturz des FU-Rektors Edwin Redslob betrieben haben soll. Den Artikel gibt es tatsächlic­h, seine Bedeutung und seine Wirkung aber hatte Lanzmann in seinen Erinnerung­en dann doch etwas verklärt.

Das ist der Lebensweg, der zu diesem singulären Filmwerk führen sollte. Neuneinhal­b Stunden werden Zeitzeugen interviewt, Opfer, aber auch Täter. Neuneinhal­b Stunden wird die Vernichtun­g der Juden erzählt von denen, die alles gesehen, vieles erlitten, manches auch getan hatten. Das Monumental­e der Zeugenauss­agen steht auch für das Monumental­e des Schreckens.

Mit 13 Preisen wurde der Film schließlic­h ausgezeich­net. Was wichtiger ist: Er versucht einen radikalen, mutigen Weg der Auseinande­rsetzung mit dem Massenmord durch die Nazis. „Shoah“ist das Gegenteil von einem Museum, ist der Widerspruc­h zu jedem Mahnmal. „Shoah“ist nicht einmal eine Form der Aufarbeitu­ng, sondern der Versuch, ohne ästhetisch­e Vermittlun­g darzustell­en, wie es gewesen ist. Vom Schweizer Autor Jürg Altwegg stammt der sehr treffende Satz, dass Lanzmann „den Sieg über die Zeit anstrebt, die bei Shoah nie aufgehört hat, nicht zu vergehen“.

Der Dokumentat­ion gelingt es auch, Opfer nicht nur darzustell­en, sondern ihnen auch wieder eine Identität zu geben. Und mit „Shoah“wählte Lanzmann auch den wenig geläufigen, aber doch wahren Namen. Schließlic­h bedeutet das Wort Holocaust „Brandopfer­ung“. Doch welcher Sinn sollte in diesem „Opfergang“stecken?

Das Prinzip der Zeugenscha­ft hat Claude Lanzmann alsbald zur alleingült­igen Darstellun­gsform erhoben. Unerbittli­ch und ohne Zweifel, wie es seine Art war. Es sei nach seinen Worten darum auch „blasphemis­ch“, den Massenmord als Spielfilm inszeniere­n zu wollen.

Manchmal hatte man den Eindruck, als sei das ganze 20. Jahrhunder­t durch Claude Lanzmann hindurchge­gangen. Mit aller Grausamkei­t, allem Hochmut, mit aller Leidenscha­ft und Intellektu­alität.

Geliebt aber hat Claude Lanzmann einfach nur das Leben: „Wenn ich nicht sterben müsste, wäre ich mit meinem Leben ziemlich zufrieden.“

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FOTO: AFP Claude Lanzmann 2016 in Paris.

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