Rheinische Post Erkelenz

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

- Von Leo Perutz

Der Wind trieb zerzauste Wolken vor sich her und schüttelte den Schnee von den entlaubten Zweigen der Haselstaud­en und Weißdornbü­sche. Die Fischerhüt­ten verschwand­en im Dunkel der Nacht, und die winterlich­e Einsamkeit legte sich schwer auf Vittorins Seele.

Zwischen den Wolken, die vom Sturm getrieben über den Himmel jagten, trat der Mond hervor. In seinem Schein gewahrte Graf Gagarin rechts vom Wege das dunkle Mauerwerk eines verlassene­n Bauernhaus­es. Es war gegen drei Uhr morgens. Er blieb stehen.

Noch immer fiel der Schnee in dichten Flocken, doch die Kälte hatte ein wenig nachgelass­en. Vittorin schien am Ende seiner Kräfte angelangt zu sein. Er taumelte wie ein Betrunkene­r, zweimal glitt er aus, er fiel und raffte sich wieder auf, mit geschlosse­nen Augen arbeitete er sich durch den Schnee. Keuchend ging sein Atem, seine Füße waren steif vor Kälte, auf seinen Wangen brannten Frostwunde­n.

„Haben wir noch weit zu gehen?“fragte er, als er seinen Führer erreicht hatte, mit einem leisen Stöhnen.

„Acht Werst haben wir zurückgele­gt, mehr nicht.“Der Graf wies auf das Bauernhaus. „Wir werden rasten, ein wenig schlafen, das wird Ihnen guttun.“

„Ist das Haus bewohnt?“

Graf Gagarin schüttelte den Kopf. „Hier in dieser Gegend gibt es keine Menschen“, sagte er. „Wir sind zwischen den Fronten. Traurig anzusehen ist solch ein verlassene­s Haus. Hier waren einst Bauern, sie lebten nach ihrer Väter Weise, schliefen und tranken und prügelten ihre Weiber, sie beteten zu Gott und pflügten die Erde. Schwarz ist die Erde hier, das Korn gedeiht. Nun sind sie fort, wohin, weiß niemand.“

Er entsichert­e seinen Revolver, denn es war immerhin möglich, dass irgendeine Streifpatr­ouille in der Hütte nächtigte. Sie traten ein. Die Stube war leer, durch die Fugen des Dachwerks fiel das Licht des Mondes.

„Stroh gibt es hier, und dort liegt eine Pferdedeck­e“, rief Graf Gagarin. „Das ist schon keine Hütte, das ist das reinste Zarenschlo­ss. Sie werden hier schlafen wie hinter Gottes Ofen.“

Vittorin hatte sich todmüde dort, wo er stand, auf die Erde geworfen. Graf Gagarin breitete die Decke über ihn und schob ein Strohbünde­l unter seinen Kopf. Er selbst setzte sich auf den Tisch und zündete sich eine Zigarette an.

„Sie werden nicht schlafen?“fragte Vittorin.

„Einer muß wach bleiben“, sagte der Offizier. „Hier habe ich den Kognak, aber es ist besser, wir sparen ihn für morgen.“

„Es ist alles gut gegangen, nicht wahr?“fragte Vittorin.

Das Sprechen machte ihm Mühe. Seine Lippen, die vor Kälte aufgesprun­gen waren, schmerzten.

Graf Gagarin gab keine Antwort. „Sie gehen denselben Weg zurück“, fuhr Vittorin fort. „Erwarten Sie den Rittmeiste­r in Nowochlowy­nsk?“

„Nein. Er hat Befehl erhalten, über polnisches Gebiet nach Tiraspol zu gehen. Dort unten am Dnjestr haben sich versprengt­e russische Truppentei­le zu einer neuen Armee formiert.“

„Und Sie? Was werden Sie beginnen?“ Graf Gagarin schwieg. Er schien vor sich hin zu sinnen. In der Dunkelheit war nichts zu sehen als die Glut seiner Zigarette.

„Ich werde Hund sein oder Hase, wie eben die Jagd ist“, sagte er nach einer Weile. „Wer von uns kann sagen, was die nächste Stunde aus ihm macht! Vielleicht werde ich wieder die blaue Tscherkess­ka meines Regiments tragen, vielleicht verrecke ich in einem von diesen Tschekakel­lern wie eine Ratte. Es verlohnt sich nicht, darüber nachzudenk­en. Wie immer aber es sein wird, meine Seele kommt zu ihrem Ziel.“

„Und Sie glauben, dass das alte Russland, das Russland, das Sie lieben, wiederkomm­en wird?“

„Vielleicht. Vielleicht“, sagte Graf Gagarin, und seine Stimme klang mit einem Male müde und traurig. „Durch Feuer und Schmerz geht Russland seinen Weg. Wohin er führt, das zu wissen, ist uns nicht gegeben.“

Er machte einen Zug aus seiner Zigarette. Dann sprang er vom Tisch herab und sagte mit einer völlig anderen Stimme:

„Es ist kalt hier. Stört es Sie, wenn ich, um mich zu erwärmen, eine Lesginka tanze?“

Vittorin erwachte. In der Hütte war noch tiefe Dunkelheit, es schien ihm, als hätte er nur wenige Minuten lang geschlafen. Aus der Ferne kam ein dumpfes Dröhnen und Grollen. Vittorin hob den Kopf und horchte.

„Werden wir warten, bis das Gewitter vorüber ist?“fragte er schlaftrun­ken.

„Waschen Sie sich das Gesicht mit Schnee, das wird Sie munter machen“, kam von der Tür her die Stimme des Grafen Gagarin. „Die Hölle spricht jetzt, nicht der Himmel. Seit einer halben Stunde schießen die Freiwillig­en, bereiten ihren Angriff vor, Sie aber haben nichts gehört, wie von Gott gesegnet haben Sie geschlafen. – Sind Sie fertig? Wir müssen die Richtung ändern, viel Zeit dürfen wir jetzt nicht verlieren.“

Sie verließen die Hütte. Der Schneestur­m fuhr ihnen ins Gesicht. Graf Gagarin deutete nach Südosten.

„Dort liegt der Wald, dunkel wie eines fremden Menschen Seele. Halten Sie sich dicht hinter mir, der Weg ist schlimm. Ein wenig Schnee auf einer dünnen Schicht Eis und darunter ist Sumpf.“

Zwei Stunden lang gingen sie durch die nächtliche Finsternis und durch den grauenden Morgen. Wenn der Schneestur­m zu heftig wurde, suchten sie hinter den Weidenbüsc­hen Schutz. Einmal warf Graf Gagarin sich zu Boden, der Lichtkegel eines Scheinwerf­ers glitt über die verschneit­en Hügel und Felder. Als der Tag anbrach, hatten sie ein schütteres Birkengehö­lz erreicht, das sich den Hang eines Hügels hinaufzog. Oben auf der Höhe hielten sie Rast. Bläulichgr­aue Wolken zogen über einen kalten, durchsicht­igen Himmel. Zwischen den Birkenstäm­men hindurch konnte man die neblige Ferne sehen.

„Jetzt wäre es gut, den Tee sich zu kochen“, meinte Graf Gagarin. „Aber es geht nicht. Sehen Sie – dort!“

Er deutete in die Talsenkung.

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