Rheinische Post Erkelenz

Langweilt euch!

- VON MARTIN BEWERUNGE

Langeweile ist ein böses Kraut. Aber auch eine Würze, die viel verdaut.“Johann Wolfgang von Goethe musste schon so oft als Kronzeuge für Weisheiten aller Art herhalten, dass man Gefahr läuft, Leute zu langweilen. Wenn es aber darum geht, ausgerechn­et der Langeweile etwas Spannendes abzugewinn­en, erwähnt man ihn dann doch, weil er schon vor 200 Jahren als einer der Ersten überhaupt darauf hingewiese­n hat, dass selbst einer scheinbar sinnlos vergehende­n Zeitspanne eine Bedeutung innewohnen kann.

Lan-ge-wei-le: Schon das Wort klingt so zäh, dass es glatt den Preis für den langweilig­sten Begriff gewinnen könnte, wäre es nicht zugleich mit dem Stoßseufze­r jeder Kindheit verbunden, der emotionale Ausnahmezu­stände zum Ausdruck bringt: Wut, Verzweiflu­ng, Frustratio­n. Wer erinnert sich nicht an bleischwer­e Ferientage, wenn die Spielkamer­aden schon im Urlaub waren, man selbst aber nicht, an nicht enden wollende Besuche mit den Eltern, bei denen sich nur die Großen prächtig amüsierten, an Sonntage, wenn alles zu war und jeder um einen herum nichts anderes als seine Ruhe wollte. Ster-benslang-wei-lig.

Es war so: Wenn man damals auf den Bus wartete, der einen zur Schule brachte, tat man nichts anderes, als auf den Bus zu warten, der einen zur Schule brachte. Fertig. Irgendwann richtete man sich im dämmrigen Niemandsla­nd vagabundie­render Gedanken ein, in das einen die Langeweile unweigerli­ch entführte, weil Ablenkung – und das war in der vordigital­en Ära oft der Fall – fehlte. Dann passierte doch etwas: Weil die Gegenwart so wahnsinnig öde war, beschäftig­te sich das heranreife­nde Hirn mit der Vergangenh­eit. Oder mit der Zukunft. Das konnte durchaus unterhalts­am, sogar kreativ sein. Aus dem Nichts erschien die Gelegenhei­t, mit manchem abzuschlie­ßen. Oder sich Neuem zu öffnen. Die Zeit hörte auf, ein Feind zu sein.

An diesem Punkt hätte man den Satz des alten Goethe schon eher verstanden, wenn man ihn denn gekannt hätte. Oder Walter Benjamins Worte: „Wenn der Schlaf der Höhepunkt der körperlich­en Entspannun­g ist, so die Langeweile der geistigen. Die Langeweile ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet.“Aber auch den hatte man damals noch nicht gelesen.

Heute befindet sich diese Form der schöpferis­chen Langeweile auf dem Rückzug. Schon Kleinkinde­r wischen auf Tablet-Bildschirm­en herum, von Jugendlich­en und Erwachsene­n ganz zu schweigen. Sobald nichts läuft, wandert der Blick aufs Smartphone: beim Warten auf die Bahn, beim Warten aufs Essen, beim Warten auf die Freundin. Wem das Fernsehpro­gramm zu langweilig ist, schaut bei Netflix rein. Das Reich der Tagträume ist zusammenge­schrumpft und damit der Raum für Gedanken an das, was wirklich war, und an das, was vielleicht sein könnte. Eine permanente Gegenwart aus immer neuen Ablenkunge­n und Reizen frisst Vergangenh­eit und Zukunft. Nicht wenige Menschen stecken inzwischen viel Geld in Kurse, in denen man lange auf einen Fleck an der Wand starrt, um herauszufi­nden, was das mit einem macht. An der Bushaltest­elle gab es das früher umsonst.

Auf der Suche nach der verlorenen (Aus-)Zeit stößt man auf eine nicht so ferne Vergangenh­eit, in der es bloß eine Handvoll Sender gab, Geschäfte um 18.30 Uhr schlossen (samstags um 14 Uhr!) und soziale Netzwerke sich auf ein gutes Dutzend bester Freunde beschränkt­en. Mit Leuten in Kontakt zu treten, war aufwendige­r. Man wartete, dass das Telefon klingelte, schrieb Briefe. Die Antwortzei­ten waren aus heutiger Sicht krass, Arbeitsabl­äufe noch nicht so hoch verdichtet und die Menschen noch nicht so sehr damit beschäftig­t, sich selbst und ihr Leben ständig weiter zu optimieren.

Es stört das menschlich­e Bewusstsei­n, wenn nichts stört – das nennt man Langeweile

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