„Meine Mutter hat mir Contergan gegeben“
Walter Mende, Ex-Oberbürgermeister von Leverkusen, erinnert sich an den sorglosen Umgang mit Contergan in seiner Jugend. Dabei war es sein Vater Erich Mende, der vor 60 Jahren einen der größten Medizinskandale ins Rollen brachte.
BONN/LEVERKUSEN Es war ein relativ nachrichtenarmer Tag in jenem Frühsommer des Jahres 1958. Das Europäische Parlament trat in Straßburg zu seiner ersten ordentlichen Sitzungsperiode zusammen. Auf einem außerordentlichen Parteitag in Wien verabschiedete die SPÖ ein neues Programm. Und auch die Anfrage, die der FDP-Politiker Erich Mende im Deutschen Bundestag stellte, machte nicht den Eindruck, als solle sie die Nachrichten beherrschen. Eine dramatische Fehleinschätzung, wie sich ein Jahr später herausstellen sollte.
Mende war der erste Politiker, der 1958 den Bericht des Bayreuther Kinderarztes Karl Beck aufgriff. Der Mediziner hatte über die Häufung von missgebildeten Neu- und Totgeborenen geschrieben. Wie viele damals
„Es gab ja so gut wie keine Nebenwirkungen – dachten wir wenigstens“
Walter Mende
vermutete auch er, die Missbildungen könnten in Zusammenhang mit US-Kernwaffentests stehen. Mende forderte daher, eine Erhebung anzustellen, „ob die Zahl von Missgeburten seit 1950 zugenommen“habe und ob dies „in Zusammenhang mit den atomaren Tests stehen“könne.
Was der damals 41-jährige Abgeordnete – später FDP-Bundesvorsitzender (1960 bis 1968) und Vizekanzler (1963 bis 1966) – nicht für möglich gehalten hätte: Mit seiner Anfrage brachte er einen der größten Arzneimittelskandale in der Geschichte der Bundesrepublik ins Rollen: die Contergan-Affäre.
Das millionenfach verkaufte rezeptfreie Beruhigungsmedikament der Firma Grünenthal galt im Hinblick auf Nebenwirkungen als besonders sicher. Bis Ende der 1950er Jahre wurde es sogar gezielt für Schwangere empfohlen. Mit verheerenden Folgen. Es kam zu einer Häufung von schweren Missbildungen oder gar dem Fehlen von Gliedmaßen und Organen bei Neugeborenen. Weltweit wurden etwa 10.000 geschädigte Kinder gezählt – Totgeburten nicht eingerechnet.
Auch in Mendes eigener Familie spielte Contergan eine Rolle, wie sein ältester Sohn Walter im Gespräch mit unserer Redaktion berichtet. „Meine Mutter hat mir das Medikament damals gegeben, als ich aufgrund von Prüfungsängsten in der Schule eine Zeitlang unter Schlafstörungen litt“, erzählt der heute 73-Jährige: „Es wirkte hervorragend. Und es gab ja so gut wie keine Nebenwirkungen – dachten wir wenigstens.“
Dafür, dass sein Vater den Stein politisch ins Rollen brachte, ist Walter Mende bis heute dankbar, nicht nur, weil er selbst später Vater von gesunden Kindern wurde. „Mein Vater hat sicherlich, ohne es zu ahnen, viele Menschen davor bewahrt, Opfer dieses Pharma-Skandals zu werden“, sagt der Leverkusener Rechtsanwalt. Und das, obwohl er Zeit seines Lebens ein kritisch-distanziertes Verhältnis zu Erich Mende hatte.
Der verließ die Familie nämlich früh, heiratete erneut. „Er gehörte zu dieser Politiker-Generation, für die auch ein Franz-Josef Strauß von der CSU oder ein Helmut Schmidt von der SPD standen“, analysiert Walter Mende. Der Zweite Weltkrieg habe diese Generation geprägt und meist zu sehr harten Menschen gemacht. Sein Vater, selbst Träger der Nahkampf-Spange, habe zwar nie viel vom Krieg erzählt, „aber wenn er es tat, ging es meist darum, was dieses grauenhafte Gemetzel aus den Menschen gemacht hat“, sagt Mende.
Auf der positiven Seite hieß das: Gab es ein Thema, in das diese Politiker sich verbissen hatten, ließen sie nicht mehr los. Auf der negativen Seite spielte Familie eben meist nur die zweite Rolle: „Für die öffentliche Berichterstattung wurde die Familie gerne präsentiert – aber wirklich zu Hause war mein Vater selten.“Dennoch ließ sich Walter Mende nicht davon abschrecken, selbst in die Politik zu gehen. Er erlangte 1992 sogar bundesweite Berühmtheit, als er den Posten des Düsseldorfer Oberstadtdirektors ablehnte, weil er nicht ausschließen konnte, dass er in der geheimen Wahl vier Stimmen von damals im Stadtrat vertretenen Ultrarechten bekommen hatte. „Dies wären dann genau die vier Stimmen Vorsprung gewesen, die ich vor meinem Gegenkandidaten hatte“, erinnert sich der Politiker: „Auf so einer Basis wollte ich nicht arbeiten.“
Zwei Jahre später wurde er stattdessen der erste hauptamtliche Oberbürgermeister der Stadt Leverkusen. Dort saß er auch zehn Jahre lang als Fraktionsvorsitzender im Stadtrat – allerdings für die SPD, die sein Vater, der in der FDP seine Karriere begründete und in der CDU schließlich ausklingen ließ, politisch immer bekämpft hatte.
In diesem Punkt habe es allerdings nie Streit gegeben, betont Walter Mende: „In dieser Frage war mein Vater wirklich Demokrat durch und durch“, erinnert er sich und lächelt: „Immer, wenn er von einem Journalisten darauf angesprochen wurde, sagte er nur: ,Da können Sie mal sehen, was für eine weltoffene und liberale Familie wir sind’.“