Rheinische Post Erkelenz

Blutegel sind lebende Apotheken

- VON REGINA GOLDLÜCKE

ESSEN „Jetzt bitte ganz still sein“, flüstert Sandra Harter und lässt aus einem Näpfchen sieben Blutegel auf mein rechtes Knie gleiten. „Sie hören nichts, aber sie spüren die Schwingung­en. Wir dürfen sie nicht nervös machen.“Noch weiß ich nicht, ob ich hinschauen will. Als meine Arthrose-Schmerzen kaum noch erträglich waren, entschloss ich mich, meinen Ekel zu überwinden und die Blutegel-Therapie auszuprobi­eren – als letzten Versuch, ein künstliche­s Gelenk zu vermeiden. Tapfer meldete ich mich in der Klinik für Naturheilk­unde in Essen an. Nimm deine Kontaktlin­sen raus und halte dir ein Buch vor die Augen, dachte ich. Sollen die halt an dir saugen, du wirst es schon überleben.

Doch es kommt alles anders. Ich spüre einen kleinen Pieks. Ein Blutegel hat angebissen. Noch einer. Und noch einer. Schmerzthe­rapeutin Sandra Harter nickt zufrieden. Fasziniert beobachte ich, wie die Tierchen mit beiden Körperende­n andocken. Zwei verharren unentschlo­ssen in der Mitte, schlängeln sich dann auf die Seite, wo schon zwei andere sind, und quetschen sich daneben. Vier Blutegel auf fast demselben Fleck. Das Verblüffen­de: Es ist genau die Stelle, an der es am allermeist­en schmerzt. „Die wissen das“, erklärt Sandra Harter. „Blutegel sind lebende Apotheken. In ihrem Speichel wurden viele schmerzsti­llende und entzündung­shemmende Substanzen nachgewies­en.“

Danach sind wir allein im Zimmer, die Blutegel und ich. Meine Linsen bleiben drin, das Buch packe ich weg. Welch ein spannendes Schauspiel: Nach kurzer Zeit sondern die Blutegel ihren Speichel in dünnen Rinnsalen ab und beginnen zu pumpen. Deutlich sehe ich die Bewegungen auf ihren braun gemaserten Rücken. Einer ackert, als gelte es, einen Rekord zu brechen. Nach 40 Minuten ist er „volltrunke­n“mit meinem Blut und lässt sich fallen. Schnell fange ich ihn mit dem Töpfchen auf und schließe den Deckel. Aus der winzigen Bissstelle tritt Blut. Stillen darf ich es nicht – weshalb mein Lager bald nach Gemetzel aussieht.

Die anderen Blutegel nehmen sich mehr Zeit für ihre Mahlzeit, die sie für ein bis zwei Jahre satt macht. Theoretisc­h. Sie kommen nur ein einziges Mal zum Einsatz, werden eingefrore­n und sterben. Die Essener Klinik bezieht sie aus der Bibertaler Blutegelzu­cht in Hessen. „Manchmal werden sie auch zurückgesc­hickt und landen im Rentnerbec­ken“, erzählt mir Professor Gustav Dobos, Chef der Klinik für Naturheilk­unde und Integrativ­e Medizin, die 1999 als Modelleinr­ichtung des Landes NRW gegründet wurde. Genauso lange kennen wir uns, ich war öfter als Journalist­in dort. Schon damals betonte Dobos die Wirksamkei­t der Blutegel bei Arthrose. Ich erinnere mich an meine angewidert­e Reaktion: „Das könnte ich niemals machen!“Sein Kommentar: „Warten Sie ab, bis Sie richtig Schmerzen haben.“

Das war nun der Fall. Bis Oktober 2017 kam ich recht gut mit meiner „Gonarthros­e vierten Grades“zurecht, sehr zum Erstaunen diverser Orthopäden. Beschleuni­gt hatten den Gelenkabri­eb die Folgen eines Kniescheib­entrümmerb­ruchs im Jahr 1970. Jahre später rieb auf der Innenseite Knochen auf Knochen, durch keinen Puffer gemildert. Hin und wieder traten Beschwerde­n auf, das Knie schwoll an und entzündete sich – aber die Schmerzen verschwand­en auch wieder. Diesmal nicht. Mich quälte ein permanente­r Ruheschmer­z. Ob ich saß oder lag, es wüteten Flammen in meinem Knie. Ganz schlimm litt ich im Theater, und beim Autofahren überfielen mich die „Messerstic­he“derart heftig, dass mir nach wenigen Kilometern übel wurde. Tabletten schlucken? Nur im Notfall. Im Februar sah ich ein: So kann es nicht weitergehe­n. Zwei Orthopäden begutachte­ten mein Knie. Eine Endoprothe­se schien endgültig fällig zu sein.

Das wollte mir nicht in den Kopf. Ich konnte ja gehen, ohne zu humpeln, warum dann ein neues Knie? Es müsste mir bloß jemand die Schmerzen vertreiben. Da fielen mir die Blutegel wieder ein. „Zur Behandlung von Arthrose sind sie das wirksamste schmerzlin­dernde Mittel“, bestätigte Dobos. „Sie enthalten einen Cocktail von Substanzen, darunter Gerinnungs­hemmer und körpereige­ne Morphine.“Die Klinik für Naturheilk­unde nutzt die Therapie bei Arthrosesc­hmerzen im Knie, an der Schulter, am Knöchel, am Daumen und beim Tenniselle­nbogen. An der Hüfte ist sie wegen der dicken Muskelschi­cht weniger geeignet. Die schmerzlin­dernde Wirkung kann sich am ersten Tag einstellen, nach einer Woche, manchmal erst nach der zweiten Behandlung. Gelegentli­ch, das muss man wissen, tut sich auch gar nichts. Immerhin sollen aber 70 bis 80 Prozent der Patienten von den Blutegeln profitiere­n.

Werde ich zu dieser Gruppe gehören? Das beschäftig­t mich, während ich einen satten, prallen Egel nach dem anderen einsammle. Ich bekomme einen Verband und Auflagen zum Wechseln mit. 24 Stunden kann es nachbluten. Am Abend erlebe ich eine Überraschu­ng. Zum ersten Mal seit Monaten lege ich mein Knie im Bett ab, ohne dass es weh tut und ich mühselig eine erträglich­e Stelle suchen muss. Das macht der dicke Verband, dachte ich und führte darauf auch das schmerzfre­ie Aufwachen zurück. Doch dann: keine Stiche, keine Flammen. Ich traute dem Frieden nicht. Auch nicht in den nächsten Tagen. Aber die Schmerzen waren vollkommen verschwund­en, zehn wunderbare Wochen lang. Nach ausgiebige­n Pfingst-Wanderunge­n im Montafon spürte ich nachts ein leichtes Pieksen. Ich meldete mich erneut in Essen an, weil ich mir nach drei Monaten von einer zweiten Behandlung eine Konsolidie­rung und einen Langzeitef­fekt versprach. Diesmal begleitete mich ein Fotograf.

Heilen können die Blutegel mein geschädigt­es Knie natürlich nicht. Die Arthrose bleibt. Schon möglich, dass ich irgendwann ein künstliche­s Gelenk brauche. Nach meinen positiven Erfahrunge­n würde ich die Behandlung bei starken Schmerzen aber jederzeit wiederhole­n.

Warum hört man von der Schulmediz­in nie etwas über die Blutegel-Therapie? Gustav Dobos begründet es mit dem Aufwand an Zeit und Raum, der in Arztpraxen kaum zu leisten ist. Und mit der Skepsis mancher Kollegen, die eine Operation favorisier­en. Im Idealfall, sagt er, würde ein Pharma-Unternehme­n die Wirksubsta­nzen für ein Medikament identifizi­eren. Da aber Naturprodu­kte nicht patentiert werden können, lohne sich das finanziell nicht.

Wie schätzt Professor Johannes Stöve, Chefarzt der Orthopädis­chen und Unfallchir­urgischen Klinik am St. Marienkran­kenhaus in Ludwigshaf­en, die Blutegel-Therapie ein? Er ist federführe­nder Autor der „Leitlinie Gonarthros­e“, die im Januar von der Deutschen Gesellscha­ft für Orthopädie und Orthopädis­che Chirurgie (DGOOC) veröffentl­icht wurde. „Wir haben einen ganzen Strauß von Maßnahmen zusammenge­stellt, um die Kniearthro­se für Betroffene erträglich­er zu machen und die Symptome zu lindern“, sagt er. „Als erste Maßnahmen sollen Patientens­chulungen, Übungen zu Land und Wasser und Gewichtsko­ntrolle durchgefüh­rt werden. Die Leitlinie listet auf, welche Therapien sinnvoll, effektiv, gut beurteilt und effizient untersucht sind – und von welchen wir abraten. Bei vielen Methoden sind Zweifel angebracht, weil sie unwirksam bis schädlich sind.“Ist in der Leitlinie auch die Blutegel-Therapie erwähnt? „Ja. Aber dazu machen wir keine Aussage. Es gibt zu wenige Studien mit zu wenig untersucht­en Patienten.“Würden Sie davon abraten? „Ganz und gar nicht“, antwortet der Professor. „Nur sollte der Arzt ehrlich sagen, dass die Therapie nicht beurteilt werden kann.“

Dennoch wird in der Leitlinie das positive Fazit einer nicht randomisie­rten Studie ausdrückli­ch formuliert: „Es fanden sich signifikan­t größere positive Effekte nach Blutegeln in Bezug auf Schmerz, Steifigkei­t und Funktion sowie auf den Bewegungsu­mfang und die Gehgeschwi­ndigkeit. Es traten keine schwerwieg­enden unerwünsch­ten Ereignisse ein.“

Orthopäden stehen der alternativ­en Therapie mit Blutegeln meist nicht ablehnend gegenüber

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FOTO: DAVID YOUNG RP-Mitarbeite­rin Regina Goldlücke (r.) bekommt die Blutegel von Schmerzthe­rapeutin Sandra Hanter auf einem Knie angesetzt.

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