Blutegel sind lebende Apotheken
ESSEN „Jetzt bitte ganz still sein“, flüstert Sandra Harter und lässt aus einem Näpfchen sieben Blutegel auf mein rechtes Knie gleiten. „Sie hören nichts, aber sie spüren die Schwingungen. Wir dürfen sie nicht nervös machen.“Noch weiß ich nicht, ob ich hinschauen will. Als meine Arthrose-Schmerzen kaum noch erträglich waren, entschloss ich mich, meinen Ekel zu überwinden und die Blutegel-Therapie auszuprobieren – als letzten Versuch, ein künstliches Gelenk zu vermeiden. Tapfer meldete ich mich in der Klinik für Naturheilkunde in Essen an. Nimm deine Kontaktlinsen raus und halte dir ein Buch vor die Augen, dachte ich. Sollen die halt an dir saugen, du wirst es schon überleben.
Doch es kommt alles anders. Ich spüre einen kleinen Pieks. Ein Blutegel hat angebissen. Noch einer. Und noch einer. Schmerztherapeutin Sandra Harter nickt zufrieden. Fasziniert beobachte ich, wie die Tierchen mit beiden Körperenden andocken. Zwei verharren unentschlossen in der Mitte, schlängeln sich dann auf die Seite, wo schon zwei andere sind, und quetschen sich daneben. Vier Blutegel auf fast demselben Fleck. Das Verblüffende: Es ist genau die Stelle, an der es am allermeisten schmerzt. „Die wissen das“, erklärt Sandra Harter. „Blutegel sind lebende Apotheken. In ihrem Speichel wurden viele schmerzstillende und entzündungshemmende Substanzen nachgewiesen.“
Danach sind wir allein im Zimmer, die Blutegel und ich. Meine Linsen bleiben drin, das Buch packe ich weg. Welch ein spannendes Schauspiel: Nach kurzer Zeit sondern die Blutegel ihren Speichel in dünnen Rinnsalen ab und beginnen zu pumpen. Deutlich sehe ich die Bewegungen auf ihren braun gemaserten Rücken. Einer ackert, als gelte es, einen Rekord zu brechen. Nach 40 Minuten ist er „volltrunken“mit meinem Blut und lässt sich fallen. Schnell fange ich ihn mit dem Töpfchen auf und schließe den Deckel. Aus der winzigen Bissstelle tritt Blut. Stillen darf ich es nicht – weshalb mein Lager bald nach Gemetzel aussieht.
Die anderen Blutegel nehmen sich mehr Zeit für ihre Mahlzeit, die sie für ein bis zwei Jahre satt macht. Theoretisch. Sie kommen nur ein einziges Mal zum Einsatz, werden eingefroren und sterben. Die Essener Klinik bezieht sie aus der Bibertaler Blutegelzucht in Hessen. „Manchmal werden sie auch zurückgeschickt und landen im Rentnerbecken“, erzählt mir Professor Gustav Dobos, Chef der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin, die 1999 als Modelleinrichtung des Landes NRW gegründet wurde. Genauso lange kennen wir uns, ich war öfter als Journalistin dort. Schon damals betonte Dobos die Wirksamkeit der Blutegel bei Arthrose. Ich erinnere mich an meine angewiderte Reaktion: „Das könnte ich niemals machen!“Sein Kommentar: „Warten Sie ab, bis Sie richtig Schmerzen haben.“
Das war nun der Fall. Bis Oktober 2017 kam ich recht gut mit meiner „Gonarthrose vierten Grades“zurecht, sehr zum Erstaunen diverser Orthopäden. Beschleunigt hatten den Gelenkabrieb die Folgen eines Kniescheibentrümmerbruchs im Jahr 1970. Jahre später rieb auf der Innenseite Knochen auf Knochen, durch keinen Puffer gemildert. Hin und wieder traten Beschwerden auf, das Knie schwoll an und entzündete sich – aber die Schmerzen verschwanden auch wieder. Diesmal nicht. Mich quälte ein permanenter Ruheschmerz. Ob ich saß oder lag, es wüteten Flammen in meinem Knie. Ganz schlimm litt ich im Theater, und beim Autofahren überfielen mich die „Messerstiche“derart heftig, dass mir nach wenigen Kilometern übel wurde. Tabletten schlucken? Nur im Notfall. Im Februar sah ich ein: So kann es nicht weitergehen. Zwei Orthopäden begutachteten mein Knie. Eine Endoprothese schien endgültig fällig zu sein.
Das wollte mir nicht in den Kopf. Ich konnte ja gehen, ohne zu humpeln, warum dann ein neues Knie? Es müsste mir bloß jemand die Schmerzen vertreiben. Da fielen mir die Blutegel wieder ein. „Zur Behandlung von Arthrose sind sie das wirksamste schmerzlindernde Mittel“, bestätigte Dobos. „Sie enthalten einen Cocktail von Substanzen, darunter Gerinnungshemmer und körpereigene Morphine.“Die Klinik für Naturheilkunde nutzt die Therapie bei Arthroseschmerzen im Knie, an der Schulter, am Knöchel, am Daumen und beim Tennisellenbogen. An der Hüfte ist sie wegen der dicken Muskelschicht weniger geeignet. Die schmerzlindernde Wirkung kann sich am ersten Tag einstellen, nach einer Woche, manchmal erst nach der zweiten Behandlung. Gelegentlich, das muss man wissen, tut sich auch gar nichts. Immerhin sollen aber 70 bis 80 Prozent der Patienten von den Blutegeln profitieren.
Werde ich zu dieser Gruppe gehören? Das beschäftigt mich, während ich einen satten, prallen Egel nach dem anderen einsammle. Ich bekomme einen Verband und Auflagen zum Wechseln mit. 24 Stunden kann es nachbluten. Am Abend erlebe ich eine Überraschung. Zum ersten Mal seit Monaten lege ich mein Knie im Bett ab, ohne dass es weh tut und ich mühselig eine erträgliche Stelle suchen muss. Das macht der dicke Verband, dachte ich und führte darauf auch das schmerzfreie Aufwachen zurück. Doch dann: keine Stiche, keine Flammen. Ich traute dem Frieden nicht. Auch nicht in den nächsten Tagen. Aber die Schmerzen waren vollkommen verschwunden, zehn wunderbare Wochen lang. Nach ausgiebigen Pfingst-Wanderungen im Montafon spürte ich nachts ein leichtes Pieksen. Ich meldete mich erneut in Essen an, weil ich mir nach drei Monaten von einer zweiten Behandlung eine Konsolidierung und einen Langzeiteffekt versprach. Diesmal begleitete mich ein Fotograf.
Heilen können die Blutegel mein geschädigtes Knie natürlich nicht. Die Arthrose bleibt. Schon möglich, dass ich irgendwann ein künstliches Gelenk brauche. Nach meinen positiven Erfahrungen würde ich die Behandlung bei starken Schmerzen aber jederzeit wiederholen.
Warum hört man von der Schulmedizin nie etwas über die Blutegel-Therapie? Gustav Dobos begründet es mit dem Aufwand an Zeit und Raum, der in Arztpraxen kaum zu leisten ist. Und mit der Skepsis mancher Kollegen, die eine Operation favorisieren. Im Idealfall, sagt er, würde ein Pharma-Unternehmen die Wirksubstanzen für ein Medikament identifizieren. Da aber Naturprodukte nicht patentiert werden können, lohne sich das finanziell nicht.
Wie schätzt Professor Johannes Stöve, Chefarzt der Orthopädischen und Unfallchirurgischen Klinik am St. Marienkrankenhaus in Ludwigshafen, die Blutegel-Therapie ein? Er ist federführender Autor der „Leitlinie Gonarthrose“, die im Januar von der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) veröffentlicht wurde. „Wir haben einen ganzen Strauß von Maßnahmen zusammengestellt, um die Kniearthrose für Betroffene erträglicher zu machen und die Symptome zu lindern“, sagt er. „Als erste Maßnahmen sollen Patientenschulungen, Übungen zu Land und Wasser und Gewichtskontrolle durchgeführt werden. Die Leitlinie listet auf, welche Therapien sinnvoll, effektiv, gut beurteilt und effizient untersucht sind – und von welchen wir abraten. Bei vielen Methoden sind Zweifel angebracht, weil sie unwirksam bis schädlich sind.“Ist in der Leitlinie auch die Blutegel-Therapie erwähnt? „Ja. Aber dazu machen wir keine Aussage. Es gibt zu wenige Studien mit zu wenig untersuchten Patienten.“Würden Sie davon abraten? „Ganz und gar nicht“, antwortet der Professor. „Nur sollte der Arzt ehrlich sagen, dass die Therapie nicht beurteilt werden kann.“
Dennoch wird in der Leitlinie das positive Fazit einer nicht randomisierten Studie ausdrücklich formuliert: „Es fanden sich signifikant größere positive Effekte nach Blutegeln in Bezug auf Schmerz, Steifigkeit und Funktion sowie auf den Bewegungsumfang und die Gehgeschwindigkeit. Es traten keine schwerwiegenden unerwünschten Ereignisse ein.“
Orthopäden stehen der alternativen Therapie mit Blutegeln meist nicht ablehnend gegenüber