Gegen den Brexit-Frust
Nach 28 Jahren steht England wieder in einem WM-Halbfinale. Während es in der Politik drunter und drüber geht, eint der Fußball die Nation.
LONDON Am Dienstag waren die Titelseiten der Londoner Zeitungen voll von der Brexit-Krise rund um die Regierung von Premierministerin Theresa May. Von Chaos war die Rede und von dem schamlosen Verhalten des zurückgetretenen Außenministers Boris Johnson. Das Millionenblatt „Sun“hingegen erinnerte die Politiker an das eigentliche Thema dieser Woche. „Wisst Ihr denn verdammt nochmal nicht, dass wir ein Spiel zu bestehen haben?“, fragte die Titelzeile empört.
Damit drückte die Revolverpostille gewiss die Stimmung der Nation aus, jedenfalls ihres englischen Teils (rund 85 Prozent der Bevölkerung). Begeistert, fröhlich, dem eigenen Glück nicht trauend, bereiten sich Millionen von Briten auf einen seltenen Fußballabend vor: Am Mittwoch steht zum ersten Mal seit 28 Jahren wieder das englische Nationalteam im Halbfinale der Weltmeisterschaft. Ganz egal, wie das Spiel gegen Kroatien in Moskau endet – schon jetzt haben Nationaltrainer Gareth Southgate und seine Mannschaft der Nation ein zuletzt kaum gekanntes Gefühl von Begeisterung und Einigkeit verliehen.
Die Freude am Fortkommen ihrer Fußballer ist in England umso größer, als vorab kaum jemand auf Southgates Buben setzen wollte. Seit dem Ausscheiden gegen Deutschland 1990 in Turin haben die Fans gefühlt kaum noch Erfolgserlebnisse verzeichnen können. Zwar schafften es englische Teams 2002 und 2006 immerhin jeweils ins Viertelfinale; anders als heute aber hielt das die Öffentlichkeit im Mutterland des Fußballs, aufgepeitscht von entfesselten Boulevardblättern, damals für eine Selbstverständlichkeit.
Hatte man nicht die teuerste Liga der Welt? Gewannen Teams wie Manchester United und FC Chelsea nicht immer wieder europäische Trophäen? Und verfügte man mit Spielern wie David Beckham, Frank Lampard und Wayne Rooney nicht über eine goldene Generation begnadeter Techniker? Typisch englische Arroganz machte sich breit, übergroße Egos behinderten die Teambildung, in der Presse nahm die Berichterstattung über die „wags“(wives&girlfriends) genannten besseren Hälften der Spieler größeren Raum ein als die mäßigen Leistungen der Mannschaft.
Erst die unglückliche Niederlage gegen Deutschland im Achtelfinale 2010 (1:4 in Bloemfontein), mehr noch das jämmerliche Ausscheiden in der Gruppenphase vor vier Jahren, haben die Engländer auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt – Waliser, Schotten und Nordiren mit ihren je eigenen, erfolglosen Teams waren dort längst angekommen.
Für die jetzige Erfolgssträhne standen dann, wie meistens im Sport, Zufall und Glück Pate. In einem letzten Aufzucken typisch englischer Rückwärtsgewandtheit hatten die Funktionäre des Verbandes FA nach der Pleite bei der EM 2016 den Trainer-Veteranen Sam Allardyce als Nationalcoach verpflichtet, einen bulligen Spezialisten für kompromisslose Abstiegskämpfe, zudem seit Jahren von Korruptionsvorwürfen verfolgt. Als nach gerade mal 67 Tagen im Amt schmuddelige Geschäfte ans Tageslicht kamen, musste die hilflose FA-Spitze über Nacht Ersatz für den Allardyce auftreiben. Interimsweise erhielt Juniorentrainer Gareth Southgate den Posten – und erwies sich rasch als Glücksfall.
Dieser Tage wird der 47-Jährige, einst unauffälliger defensiver Mittelfeldspieler für Nationalelf und zweitrangige Ligaklubs, in den britischen Zeitungen vielfach für seine „emotionale Intelligenz“gerühmt. Übersetzt bedeutet das: Southgate leidet weder an der englischen Krankheit notorischer Selbstüberschätzung noch an Minderwertigkeitsgefühlen. Als Deutschland ausschied, verweigerte der Engländer der darauf lauernden Presse jegliche Schadenfreude, sprach hingegen ausführlich und mit Hochachtung über die Arbeit seines Trainerkollegen Joachim Löw.
Um eine Achse junger Spieler vom Londoner Klub Tottenham Hotspurs, angereichert mit Talenten vom FC Liverpool und Meister Manchester City, hat Southgate ein Team ohne Star-Allüren geschmiedet. Schon seit Monaten ließ er Elfmeterschießen üben, was seine Vorgänger stets als überflüssig verweigert hatten – Southgate selbst musste 1996 im EM-Halbfinale gegen Deutschland völlig unvorbereitet zum Punkt gehen. Dass er verschoss, hing ihm lange nach. Umso begeisterter reagierte die Nation, als die Engländer im Achtelfinale gegen Kolumbien das Elfmeterschießen gewannen, im siebten Anlauf bei einem wichtigen Turnier.
Nun hat sich die Nation um den sympathischen Trainer und seine junges Team versammelt. Im Londoner Hyde Park wurde eine Riesenleinwand für 30.000 Zuschauer aufgebaut, auch andernorts ist Public Viewing unverzichtbar. Chöre haben ihre Proben abgesagt, beim Tennisturnier in Wimbledon wurde das Verbot der Benutzung von Smartphones aufgehoben. Sollte England tatsächlich die Kroaten schlagen, wäre dies die erste Finalteilnahme seit der WM im eigenen Land 1966. England hofft und träumt.