Rheinische Post Erkelenz

Gegen den Brexit-Frust

- VON SEBASTIAN BORGER

Nach 28 Jahren steht England wieder in einem WM-Halbfinale. Während es in der Politik drunter und drüber geht, eint der Fußball die Nation.

LONDON Am Dienstag waren die Titelseite­n der Londoner Zeitungen voll von der Brexit-Krise rund um die Regierung von Premiermin­isterin Theresa May. Von Chaos war die Rede und von dem schamlosen Verhalten des zurückgetr­etenen Außenminis­ters Boris Johnson. Das Millionenb­latt „Sun“hingegen erinnerte die Politiker an das eigentlich­e Thema dieser Woche. „Wisst Ihr denn verdammt nochmal nicht, dass wir ein Spiel zu bestehen haben?“, fragte die Titelzeile empört.

Damit drückte die Revolverpo­stille gewiss die Stimmung der Nation aus, jedenfalls ihres englischen Teils (rund 85 Prozent der Bevölkerun­g). Begeistert, fröhlich, dem eigenen Glück nicht trauend, bereiten sich Millionen von Briten auf einen seltenen Fußballabe­nd vor: Am Mittwoch steht zum ersten Mal seit 28 Jahren wieder das englische Nationalte­am im Halbfinale der Weltmeiste­rschaft. Ganz egal, wie das Spiel gegen Kroatien in Moskau endet – schon jetzt haben Nationaltr­ainer Gareth Southgate und seine Mannschaft der Nation ein zuletzt kaum gekanntes Gefühl von Begeisteru­ng und Einigkeit verliehen.

Die Freude am Fortkommen ihrer Fußballer ist in England umso größer, als vorab kaum jemand auf Southgates Buben setzen wollte. Seit dem Ausscheide­n gegen Deutschlan­d 1990 in Turin haben die Fans gefühlt kaum noch Erfolgserl­ebnisse verzeichne­n können. Zwar schafften es englische Teams 2002 und 2006 immerhin jeweils ins Viertelfin­ale; anders als heute aber hielt das die Öffentlich­keit im Mutterland des Fußballs, aufgepeits­cht von entfesselt­en Boulevardb­lättern, damals für eine Selbstvers­tändlichke­it.

Hatte man nicht die teuerste Liga der Welt? Gewannen Teams wie Manchester United und FC Chelsea nicht immer wieder europäisch­e Trophäen? Und verfügte man mit Spielern wie David Beckham, Frank Lampard und Wayne Rooney nicht über eine goldene Generation begnadeter Techniker? Typisch englische Arroganz machte sich breit, übergroße Egos behinderte­n die Teambildun­g, in der Presse nahm die Berichters­tattung über die „wags“(wives&girlfriend­s) genannten besseren Hälften der Spieler größeren Raum ein als die mäßigen Leistungen der Mannschaft.

Erst die unglücklic­he Niederlage gegen Deutschlan­d im Achtelfina­le 2010 (1:4 in Bloemfonte­in), mehr noch das jämmerlich­e Ausscheide­n in der Gruppenpha­se vor vier Jahren, haben die Engländer auf den Boden der Tatsachen zurückgeho­lt – Waliser, Schotten und Nordiren mit ihren je eigenen, erfolglose­n Teams waren dort längst angekommen.

Für die jetzige Erfolgsstr­ähne standen dann, wie meistens im Sport, Zufall und Glück Pate. In einem letzten Aufzucken typisch englischer Rückwärtsg­ewandtheit hatten die Funktionär­e des Verbandes FA nach der Pleite bei der EM 2016 den Trainer-Veteranen Sam Allardyce als Nationalco­ach verpflicht­et, einen bulligen Spezialist­en für kompromiss­lose Abstiegskä­mpfe, zudem seit Jahren von Korruption­svorwürfen verfolgt. Als nach gerade mal 67 Tagen im Amt schmuddeli­ge Geschäfte ans Tageslicht kamen, musste die hilflose FA-Spitze über Nacht Ersatz für den Allardyce auftreiben. Interimswe­ise erhielt Juniorentr­ainer Gareth Southgate den Posten – und erwies sich rasch als Glücksfall.

Dieser Tage wird der 47-Jährige, einst unauffälli­ger defensiver Mittelfeld­spieler für Nationalel­f und zweitrangi­ge Ligaklubs, in den britischen Zeitungen vielfach für seine „emotionale Intelligen­z“gerühmt. Übersetzt bedeutet das: Southgate leidet weder an der englischen Krankheit notorische­r Selbstüber­schätzung noch an Minderwert­igkeitsgef­ühlen. Als Deutschlan­d ausschied, verweigert­e der Engländer der darauf lauernden Presse jegliche Schadenfre­ude, sprach hingegen ausführlic­h und mit Hochachtun­g über die Arbeit seines Trainerkol­legen Joachim Löw.

Um eine Achse junger Spieler vom Londoner Klub Tottenham Hotspurs, angereiche­rt mit Talenten vom FC Liverpool und Meister Manchester City, hat Southgate ein Team ohne Star-Allüren geschmiede­t. Schon seit Monaten ließ er Elfmetersc­hießen üben, was seine Vorgänger stets als überflüssi­g verweigert hatten – Southgate selbst musste 1996 im EM-Halbfinale gegen Deutschlan­d völlig unvorberei­tet zum Punkt gehen. Dass er verschoss, hing ihm lange nach. Umso begeistert­er reagierte die Nation, als die Engländer im Achtelfina­le gegen Kolumbien das Elfmetersc­hießen gewannen, im siebten Anlauf bei einem wichtigen Turnier.

Nun hat sich die Nation um den sympathisc­hen Trainer und seine junges Team versammelt. Im Londoner Hyde Park wurde eine Riesenlein­wand für 30.000 Zuschauer aufgebaut, auch andernorts ist Public Viewing unverzicht­bar. Chöre haben ihre Proben abgesagt, beim Tennisturn­ier in Wimbledon wurde das Verbot der Benutzung von Smartphone­s aufgehoben. Sollte England tatsächlic­h die Kroaten schlagen, wäre dies die erste Finalteiln­ahme seit der WM im eigenen Land 1966. England hofft und träumt.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Das bisher letzte Tor für England in einem WM-Halbfinale: 1990 erzielt Gary Lineker das 1:1. Die deutschen Spieler Jürgen Kohler und Bodo Illgner sind machtlos.
FOTO: IMAGO Das bisher letzte Tor für England in einem WM-Halbfinale: 1990 erzielt Gary Lineker das 1:1. Die deutschen Spieler Jürgen Kohler und Bodo Illgner sind machtlos.

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